Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass | |
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die mir je zuteil ward über die schönen menschheitlichen Wahnideen. Ideale sind Krücken. Fortschritt ist nur ein Trug, Geschichte: Lüge.
Es war damals, wie wenn jeder Mensch nur eine einzige Angst hegte: hinter der „großen Stunde“ zurückzubleiben. Jeder wähnte, man könne von heute auf morgen ein Held werden. Und wenn man noch gestern dem Erfolgsschacher gelebt hatte. Da war zu Ende die Freiheit des Einzelnen. Da gab es kein Gewissen, kein Auswerten, keine Herzensprüfung. Da ballte sich aus Rauflust, Hochherzigkeit, Dummheit, Gewinnsucht, Feigheit, Herdenseligkeit, Abenteuergier, Gläubigkeit, kurz aus allem Guten und allem Schlimmen der Menschennatur: das Völkerschicksal. Jeder fühlte wie sein Nachbar. Jeder tat, was sein Nachbar tat. Und ward es zur allgemeinen Mode zu sterben, dann starb ein Jeder. Führer war, wer das sagte, was zu dieser Stunde alle hören wollten. Alle zu hören nötig hatten. Führer wollte jeder sein. Jeder wähnte, nun endlich sei seine Stunde gekommen, und die Welt habe nur auf ihn gewartet.
Wahrhaft glücklich aber waren die erst Halb-Enttierten. Nun entfiel endlich, was ihnen immer zuwider und immer hinderlich gewesen war: das zartere Gewissen, das reinere Herz. Jetzt galt das Tier. Und was nicht dem Tiere diente - es war todesreif.
In dieser Herzensqual, abgedrängt und abgeschieden wie nie zuvor, klammerte ich mich an einen törichten Plan. Bei seiner Durchführung - o kindlicher Wahn - hoffte ich auf Harden. In jedem Volke Europas, so dachte ich, müßten zu diesem entscheidenden Zeitpunkte die anerkannten bestgehörten meistgenannten
Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/193&oldid=- (Version vom 31.7.2018)