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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

aber solche Knotung und Wirrung zwischen Menschen auf einsamer Insel erst einmal Platz greift, da gibt es keine Lösung als Trennung und Flucht.

Die Gefühlslage war unerträglich. Grade darum, weil Rée sich stolz bezwang und zurückhielt, wurde Nietzsche abweisend und kalt. Wohl gab es noch freie beschwingte Stunden, in denen die zwei Philosophen über alle menschliche Leiden und Leidenschaften sich hinausschwangen in das Feld des Geistes, das sie zusammen bebauten.

Nicht daß männliche Eifersucht im gemeinen Sinn zwischen sie getreten wäre. Aber verletzlicher Stolz bis zu eisig frostigem Hochmut lag in Nietzsches Werk und Wesen. Jedes harmlose Beisammen der andern, jedes Verstummen und Befangenwerden in seiner Gegenwart, jedes fröhliche Lachen, an dem er, der Kranke nicht Anteil hatte, wurde von dem schwer Leidenden leicht mißdeutet, als obläge ihm die Wahrung seiner Würde, die das einzige Mal, wo er an eine Werbung dachte, das einzige Mal, wo er als Mann zum Weibe sich gezogen fühlte, an ihrem empfindsamsten Punkt verletzt ward.

Denn wo der Mann seiner Männlichkeit nicht gewiß ist, beginnt er zu männern, und wo wir allzu menschlich sind, werden wir unmenschlich. Rée fühlte das und fühlte trotzdem seine Unterlegenheit vor Nietzsches strenger und züchtiger Haltung. Hätten sie sich erschließen können, so wäre das lächerliche Spiel nicht zur Tragödie entartet, sondern in befreiendem Lachen aufgelöst. Aber sie verhärteten sich und gerieten in einen Strudel von Empfindlichkeiten, so daß in grauen Stunden der eine argwöhnte, der andere lache oder triumphiere über ihn

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/71&oldid=- (Version vom 5.7.2016)