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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

und der andere wiederum beleidigt grollte, daß sein Opferwille und seine Freundschaft so verkannt worden seien.

Rée war der erste, der die Unlösbarkeit der Verknotung einsah. Er riß sich los, reiste ab und vermied jede weitere Erklärung. Die wechselseitige Beziehung war dadurch gerettet, aber sie mußte fortan sachlich und förmlich werden. Man wechselte noch freundschaftliche Briefe, bis die jungen Träume verblaßten und jeder sich wieder einsam fand; da verstummte auch der briefliche Austausch.

Sie hatten während des italienischen Winters 1875/76 oft über Naturwissenschaft gesprochen. Sie träumten beide von einer erdzugewandten biologischen Ethik, die eine wohlgeborgene und wohlgeborene neue Gattung Übermensch erzüchten werde. Heute (1930), nach einem Menschenalter, läßt es sich leicht überblicken, was Friedrich Nietzsche bis hin zu „Also sprach Zarathustra“ der Begegnung mit Rée zu danken hatte. Außer manchen Wortwendungen und Einzelformulierungen die endgültig entscheidende Optik. Das unromantische Hinwenden auf die Lebenstriebmächte hinter dem Geist und dem geistigen Jenseits des Menschen. Es gibt heute nichts an Psychologie und Psychoanalyse, das nicht seine Urquelle hätte in jenen Gesprächen, die damals Rée und Nietzsche miteinander geführt haben. Nicht ein einziger Gedanke ist hinzugekommen.

Aber nicht diese Wendung zum Psychologischen entschied. Entscheidend wurde Nietzsches Mut zur Diktatur neuer Zukunftswerte.

Es ist mir zweifelhaft, ob Nietzsche jemals neugestaltend

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/72&oldid=- (Version vom 5.7.2016)