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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

eigenes Leben, schwang in Landschaft und Jahreszeit wie ein Elfenseelchen und stand immer in Gefahr, in Gesichte zu verfließen.

Und dieses Kind wuchs zum Jüngling. Und der Jüngling ward ein Dichter. Lange ehe er zum Denker wurde. Seine Neugier war unbegrenzt und unbegrenzt sein Lebenshunger. Seine Fähigkeit, alles mitzuahmen und überall das Wesen zu erspüren, machte ihm Das am allerschwersten, was den ärmeren und starreren Seelen am leichtesten fällt: Selbstbegrenzende Form.

Es schien ihm lange unmöglich, sich für einen Beruf, dieses bürgerliche Rückgrat des Lebens, zu entscheiden. Denn es gab nichts, was ihn nicht fesselte. Alles hätte er lernen, alles hätte er leben mögen.

So war er denn dauernd in der Gefahr, sich zu zersplittern. Und eben darum wurde sein Ein und Alles schließlich eine einzige große Leidenschaft: Über Millionen Gestalten sich zu erheben und den Generalnenner zu finden für die hin und her reißende Fülle der Impressionen.

Das ist der Weg zur Philosophie . . .

Noch ruhte sein Auge nicht auf dem Nächsten. Er war jung, und jeder Vogel sang Fernweh. Es kann einen jungen Menschen zur Verzweiflung bringen, daß so viele Länder bleiben werden, die er niemals sehen, so viele Hände, die er niemals drücken, so viele Stirnen, die er niemals küssen wird.

Denn obwohl dieser Seele Wärme und Treue natürlich waren, so hätte es doch eines Entschlusses bedurft, um sich selber zu finden.

Er war das Spiel jedes Lufthauchs. Darum erschien

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/89&oldid=- (Version vom 29.12.2019)