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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

Die abendländische Philosophie von Descartes bis Kant ging immer aus von dem Urphänomen: Bewußtsein. Nie kam sie auf den Gedanken, daß das Bewußtsein und die gesamte Inhaltswelt von Bewußtsein (also alles, was wir Menschen jemals Wirklichkeit nennen können) aus dem Lebenselemente herausgetreten sei als eine schöpferische Möglichkeit des Lebens unter Millionen anderer Möglichkeiten. Nein! Die Welt im Bewußtsein war die Welt überhaupt!

„Lebendig ist, was bewußt ward!“

Just als ob Lebendiges überhaupt bewußt werden könnte!

„Das Leben hat sein Dasein, ja hat das Recht auf Dasein erst zu beweisen als ein denkendes oder gedachtes Lebendiges.“

Und so verkehrten sich die Pole: Bewußtsein, Logos, Geist wurden zum wahren Leben. Und das tragende Element gewann den Charakter eines dunklen Abfalls vom Geiste und seiner göttlichen Reinheit.

Weininger versenkte sich in die Scholastiker. Er las Hegel und Kant. Er verfiel dem Zauber der Mathematik und der Phänomenologie. So verfestigte sich in ihm jener ungeheure Geschichts- und Sittlichkeitshochmut der wertenden Persönlichkeit, die ihre chthonischen Unter- und Hinterwelten als eine sie niederziehende Schmach empfindet.

Das ist der Dünkel, welcher Kant sprechen ließ: „Der Verstand erschafft die Natur“, und welcher Hegel höhnen ließ: „Wenn die Natur nicht mit der Vernunft übereinstimmt, um so schlimmer für die Natur.“

Weininger haßte das Blut, und sein Blut war jüdisches

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/92&oldid=- (Version vom 29.12.2019)