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Der kleine Spion.
Aus den „Contes du Lundi“ von Alphonse Daudet mit Einwilligung des Verfassers für die „Neue Welt“ übersetzt
von Rudolf Lavant.

Er hieß Stenne, der kleine Stenne.

Als echtes Pariser Kind war er mager und blass und konnte ebenso gut zehn als fünfzehn Jahre alt sein – bei diesen kleinen, flinken, ruhelosen Knaben ist das Alter kaum abzuschätzen. Seine Mutter war todt; sein Vater, ein alter Marinesoldat, war als Wächter eines Square im Quartier du Temple angestellt. Die kleinen Kinder, die Gouvernanten und Kindermädchen, die alten Damen in Rollstühlen, die armen Mütter, die ihre Kinder selbst ausführen müssen – diese ganze Welt für sich, welche nur kleine Schrittchen macht und sich vor dem Rollen der Wagenräder und den Staubwolken in diese von Trottoirs eingefaßten tiefer gelegenen Rasen- und Gebüsch-Oasen flüchtet, sie kannte den alten Papa Stenne und liebte ihn. Man wußte ja, daß sich unter diesem martialischen Schnurrbart, der den Hunden und den auf den Bänken sich sonnenden Bummlern einen so heillosen Schreck einjagte, ein freundliches, gerührtes, fast mütterliches Lächeln verbarg, und daß man, um dieses Lächeln zu Tage zu bringen, an den guten Alten nur die Frage zu richten brauchte:

„Wie geht es denn Ihrem kleinen Knaben?“

Er hatte seinen Knaben so sehr lieb, dieser alte Stenne! Er war so glücklich, wenn der Abend kam, die Schule geschlossen ward und der kleine ihn abholte, um mit ihm die Runde durch die Alleen zu machen; sie blieben dann vor jeder Bank stehen, um die Stammgäste ihres Square zu begrüßen und auf ihre freundliche Ansprache zu antworten.

Mit der Belagerung ward unglücklicher Weise alles anders. Der Square des alten Stenne ward geschlossen; man benutzte ihn als Lagerplatz für Petroleum, und der arme Mann, der zu unaufhörlicher sorgsamer Bewachung der gefährlichen Vorräthe gezwungen war, führte ein trauriges Leben. Allein durchstreifte er die verödeten Baum- und Buschgruppen, selbst auf die ihm zur zweiten Natur gewordene Pfeife nothgedrungen verzichtend, und seinen Knaben bekam er erst spät Abends zu sehen, wenn er heimkam. Wie zuckte aber auch sein grauer Schnurrbart, wenn er von den Preußen sprach! … Der kleine Stenne freilich sah keinen Anlass zur Klage über dieses neue Leben.

Eine Belagerung! Kann es etwas Amüsanteres für die Straßenjugend geben? Keine Schule, kein wechselseitiges Unterrichten mehr! Ununterbrochen Ferien und die Straßen so bunt und belebt, wie ein Jahrmarktsplatz! …

Das Kind lief bis zum Abend nach Willkür umher. Es begleitete die Bataillone des Quartiers, wenn sie nach den Wällen marschierten und gab dabei denen den Vorzug, die ein gutes Musikkorps aufzuweisen hatten; in diesem Punkte war der kleine Stenne merkwürdig unterrichtet. Er wußte sehr genau, daß die Musik der 96er nicht eben viel tauge, aber die 55er, die hatten eine ganz vorzügliche. Dann wieder sah er den Uebungen der Mobilgarde zu, und es galt ja auch Queue zu stehen …

Sein Körbchen unter dem Arme, nahm er seinen Platz in einer der langen Reihen, die sich im Dämmergrau des von keiner Gasflamme erhellten Wintermorgens vor den Läden der Fleischer und Bäcker bildeten. Man stand da oft bis an die Knöchel im Wasser, aber man machte Bekanntschaften, man politisirte und wurde als Sohn des alten Stenne von jedermann gefragt, wie man über die Sache denke. Das Alleramüsanteste jedoch war das Galoche-Spiel, welches die bretonischen Milizen während der Belagerung in die Mode gebracht hatten. Wenn der kleine Stenne nicht auf dem Walle oder vor dem Bäckerladen war, so traf man ihn zuverlässig auf dem Platz des Chateau-d’Eau, wo er den Galoche-Partien zusah. Zusah, denn er spielte nicht etwa mit – dazu gehört Geld. Er begnügte sich also damit, jede Bewegung der Spieler mit den Augen zu verfolgen – und mit was für Augen!

Einer namentlich, ein großer Bengel in blauer Bluse, der nur ganze Silberfranken setzte, erregte seine Bewunderung. Wenn der lief, so hörte man die Taler in der Tasche seiner Bluse klingeln …

Eines Tages raffte der Lange ein Silberstück auf, welches dem kleinen Stenne bis dicht vor die Füße gerollt war und raunte ihm hastig zu:

„Ja, schiele nur – ich kann dir’s nicht verdenken! … Na, wenn du willst, so sage ich dir, wo man die Blanken holt!“

Als die Partie zu Ende war, führte er ihn in einen abgelegenen öden Winkel des Platzes und schlug ihm vor, mit ihm zu gehen und mit ihm Journale an die Preußen zu verkaufen; jede solche kleine Reise bringe 30 Francs ein. Anfangs weigerte sich Stenne – er war aufrichtig entrüstet über den Vorschlag, und drei volle Tage fehlte er auf dem Platze und mied das verlockende Spiel und den gefährlichen Versucher. Aber das waren drei schreckliche Tage für ihn. Er aß nicht mehr, er schlief nicht mehr. Während der Nacht sah er am Fußende seines Bettes ganze Berge von Holzschuhen aufgeschichtet, und blanke blitzende Frankstücke waren in Reihen vor ihm aufgezählt. Die Versuchung war zu stark für seine Widerstandskraft. Am vierten Tage kam er wieder nach dem Chateau-d’Eau, fand er dort den Langen, ließ er sich verführen …

Sie rückten eines Morgens bei Schneegestöber aus; jeder hatte einen Leinwandsack über die Schulter geworfen und die Bluse mit Journalen ausgefüttert. Als sie an dem flandrischen Thore anlangten, graute kaum der Tag. Der Lange nahm Stenne bei der Hand, näherte sich dem Posten, einem braven Nationalgardisten mit gutmütigen Gesicht und etwas rother Nase, und sagte mit kläglicher Stimme:

„Lassen sie uns durch, bester Herr! Unsere Mutter ist krank, Papa ist todt. Ich möchte mit meinem kleinen Bruder hinaus und versuchen, ob wir nicht noch ein paar Kartoffeln auf dem Felde finden.“

Er weinte. Stenne senkte in heißer Scham den Kopf. Die Schildwache betrachtete sie einen Augenblick und warf dann einen Blick auf die öde, beschneite Straße.

„Macht schnell!“ sagte er, zur Seite tretend – und damit war ihnen der Weg nach Aubervilliers freigegeben. Wie lachte der Lange!

Undeutlich und verworren, wie in einem Traume, sah der kleine Stenne Fabrikgebäude, die man in Kasernen verwandelt hatte, verlassenen Barrikaden, auf denen sich die durchnäßten Lappen zerfetzter Uniformstücke erkennen ließen, hohe, zerschossene Schornsteine, die das Qualmen längst verlernt zu haben schienen und die, den Nebelschleier durchlöchernd, trübselig gen Himmel ragten. Von Zeit zu Zeit ein Posten, dann wieder Offiziere, die die Mantelkapuze über den Kopf gezogen hatten und mit ihren Feldstechern aufmerksam Ausschau hielten, und kleine, von schmelzenden Schnee durchweichte, triefende Zelte und vor ihnen erlöschende Feuer. Der Lange kannte jeden Weg und Steg und ging querfeldein, um den Posten auszuweichen. Trotzdem ließ es sich nicht umgehen, daß sie an einer Hauptwache der Franctireurs vorüberkamen. Die Franctireurs in ihren kurzen, dünnen Mänteln lagen, die Eisenbahn nach Soissons entlang, geduckt in einem Graben, der ganz mit Wasser angefüllt war. Diesmal schien dem Langen das klägliche Herbeten seiner Fabel nichts nützen zu wollen – man erklärte ihnen, sie dürften nicht passiren. Da trat, während er sich in heuchlerischen Klagen erschöpfte, aus dem Bahnwärterhäuschen ein alter eisgrauer Sergeant mit gefurchtem Gesicht, ganz ähnlich wie der alte Stenne. Er hatte die Stimme des Langen gehört und sagte: „Na, Jungens, hört auf zu weinen – wir wollen euch schon noch einmal hinauslassen zu euren Kartoffeln, aber kommt vorher herein und wärmt euch ein wenig – der Kleine da sieht ja ganz erfroren aus!“

Ach ja, der kleine Stenne zitterte allerdings an allen Gliedern, aber nicht vor Frost, sondern vor Furcht und vor Scham. Im Wächterhäuschen trafen sie einige Soldaten an, die sich um ein kleines, dürftiges Feuer gekauert hatten und gefrorenes Brot an den Spitzen ihrer Bajonnette in die kümmerlich genährte Flamme hielten, um es aufzuthauen. Man rückte noch dichter zusammen, um den Kindern Platz zu machen. Man gab ihnen einen Tropfen Branntwein und etwas Kaffee. Während sie tranken, kam ein Offizier an die Thür, rief den Sergeanten hinaus, sprach ganz leise mit ihm und ging sehr rasch fort.

„Kinder!“ rief der Sergeant, als er freudestrahlend wieder eintrat … „heute Nacht setzt es etwas! Wir haben das Losungswort

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Der kleine Spion. Goldhausen, Leipzig 1877, Seite 09. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_kleine_Spion_09.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)