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In sie hatte er sich heute abend versenken wollen.

Aber es war nichts, die Lektüre zerstreute ihn nicht. Er war der arme Krüppel, dem nichts mehr zu hoffen übrig blieb.

Seufzend legte er das Buch wieder weg, lehnte sich zurück und schloß die Augen, und zwei große Thränen rannen langsam über die bleichen Wangen.

Da plötzlich – was war das? Erschrocken blickte er auf. Die Lampe war von selbst ausgegangen, ein anderer, seltsamer Schein und ein süßer Weihrauchduft erfüllten das Zimmer, und vor ihm stand in verklärtem Lichte die schlanke Gestalt eines jugendlichen Weibes.

Ihr Gewand erstrahlte in wunderbarer Farbenpracht, es schien aus lauter kleinen, bunten Bildchen zusammengesetzt zu sein, die beständig wechselten, als ob das ganze Kleid lebendig wäre. Richard sah Gebirge und Thäler, Wälder und Wiesen, Wüsten und Eisfelder, Paläste und Hütten, er sah alle Menschenrassen darauf sich bewegen, er sah Taufen und Hochzeiten und Leichenbegängnisse – das ganze menschliche Leben spielte sich in allen Variationen in den Bildern ab, und dann sah er noch eine Menge von fremdartigen Gestalten, von Drachen und Ungeheuern, und alles lebendig und in bunten Farben strahlend.

In ihrem schönen Antlitz erglühten ein paar Augen in übermächtigem Feuer, und in ihrer Hand hielt sie einen Lorbeerzweig.

„Armer Richard!“ begann die wunderbare Erscheinung mit sanfter Stimme. „Fürchte Dich nicht, ich bin eine gute Fee. Ich habe an der Wiege aller derer, die Großes und Schönes und Unvergängliches geschaffen haben, Pate gestanden, und jetzt bringe ich Dir mein Geburtstagsgeschenk. Man nennt mich die Phantasie. Ein grausames Schicksal hat Deine Zukunft, zu der Du berechtigt, zerstört, ich kann das Geschehene nicht rückgängig machen, auch Deine Gesundheit nicht wieder herstellen, wohl aber kann ich Dir für das Verlorene einen Ersatz geben.

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Robert Kraft: Der letzte Höhlenmensch. H. G. Münchmeyer, Dresden (1901), Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_letzte_H%C3%B6hlenmensch.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)