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Macht irgend Einer Miene, die Lehrfreiheit, die der Klerus nur zum Scheine in Anspruch nimmt, im Ernste zu verlangen, so hört Ihr die demokratischen Blätter zitternd ausrufen: „Soll die Jugend tausend verschiedenen Lehren, also dem Skepticismus preisgegeben werden!“ Dieser „Skepticismus“ ist die bête noire der jüngern Generation in Frankreich, der Alp, der auf Allen lastet. Er treibt die Einen zur alten Religion zurück, die Andern zur Verkündigung einer neuen; er ist die Geburtsstätte der Jesuiten und der modernen Weltheilande; er macht aus den Republikanern Invaliden des grossen Kaisers, und aus den Demokraten Apostel Jesu Christi. Zu dem Volkselend fügt er noch die moralische Selbsterniedrigung hinzu, und die Besitzer des Reichthums, die Inhaber der Macht, dürfen es wagen, sich den Demokraten gegenüber hinter der Lehre vom Sündenfall zu verschanzen! Der Autoritätsglaube, den ihre Vorfahren allzu flüchlig abgeschüttelt haben, macht auf die heutigen Franzosen wieder seine alten, freiheitsmörderischen Ansprüche geltend, und die Nachkommen Voltaire’s und Rousseau’s machen den Versuch, die Lücken im Dictionnaire philosophique und Contrât social durch Bibelstellen zu ergänzen!

Ja wir haben es erlebt, dass Männer aus der demokratischen Partei ihren Vorfahren die „übertriebene“ und „anarchische“ Pressfreiheit vorwarfen, welche 1789 allen Meinungen bewilligt wurde. Was ist von solcher Weisheit zu erwarten, wenn sie erst an der Regierung und eben so mächtig, als jetzt unterdrückt und ohnmächtig ist? - In dem Mangel an Selbstvertrauen sind sich übrigens Alle gleich; Cabet, der Communist, will neben seinem „Populaire“ kein anderes communistisches Organ dulden; Louis Blanc verhehlt seine Abneigung gegen die Pressfreiheit nicht; die Republikaner des „National“, und die Sozialisten der „Reforme“ sprechen sich gegen die Lehrfreiheit aus; die Besten fürchten sich vor einer „Anarchie der Meinungen“, die sie nur durch den Autoritätsglauben besiegen zu können sich einbilden. Und wären die ehrlichen Jesuiten nicht ein längst aufgelöstes Räthsel, hätte man nicht a priori gewusst, dass sie die Fahne der Lehrfreiheit nur zum Scheine aufpflanzen, die komische Haltung gegenüber Lamartine und Ledru-Rollin, die mit dieser Freiheit Ernst machen, hätte ihre „Freisinnigkeit“ hinlänglich charakterisirt. Diese Vorkämpfer einer Religion, der die „Majorität der Franzosen,“ wie die Charte meint, und alle pères de famille, wie sie selbst behaupten, mit Leib und Seele angehören soll, fürchten sich noch weit mehr vor der wirklichen

Empfohlene Zitierweise:
Moses Hess: Briefe aus Paris. In: Deutsch-Französische Jahrbücher. Bureau der Jahrbücher, Paris 1844, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsch_Franz_Jahrb%C3%BCcher_(Ruge_Marx)_122.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)