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Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie.

Ernestine eine ganze Anzahl von Professoren der naturwissenschaftlichen Facultät brüskirt, weil dieselben nichts von Dorothea Rodde, der Tochter Schlözers, wissen. Man suche in derselben Scene die Debatten über die Schwere des Gehirns, über die Nothwendigkeit, weibliche Leichen zu seciren, um physiologisch die geistige Entwickelungsfähigkeit der Frauen zu erforschen. Derartige theoretische Excursionen, die nicht durchaus mit dem Gange und der Entwickelung des Ganzen zusammenhängen, würden einem Franzosen überhaupt nicht und einem Flaubert oder Dumas am wenigsten die Bewegung hemmen. Wilhelmine v. Hillern ist auch in der Gesinnung und in der Sentenz durch und durch deutsch. Welcher neuere Franzose würde einen Roman mit einer Abstraction, einem Fabula docet, einer Moral abschließen, wie es bei Frau v. Hillern in der Erzählung „Aus eigener Kraft“ geschieht, wo der Held, Dr. Alfred v. Salten, pathetisch die glückliche Gestaltung seines Lebens mit den Worten preist: „Ich danke es mit gerührtem Herzen dem Fortschritt unseres denkenden Jahrhunderts! So seid getrost, Ihr Alle, die, wie ich, geschmachtet hinter den Schranken, welche eine stiefmütterliche Laune der Natur oder das Vorurtheil der Menschen Euch gesteckt: die Arena des Geistes ist aufgethan, Jeder ist zum Kampfe zugelassen und Jeder kann siegen aus eigener Kraft“? Das denkende Jahrhundert! Die Arena des Geistes! Wie concret weiß der Franzose die „neuen literarischen Zeichen“ zu fixiren! Ein Dialog aus einer Comödie des Dumas fils, ein Roman Flaubert’s, zwei Artikel von Taine – Wissen, Beobachtungskunst, Reife, Kraft, ein wenig Härte. Wie umständlich philosophirt dagegen die Deutsche! Denkendes Jahrhundert, Laune der Natur, Vorurtheil der Menschen, Arena des Geistes. Hier Begriffe, dort Gesichte. Und da wir nun schon einmal dabei sind, das Deutsche an Frau v. Hillern, das Nationale, auszuspüren, so wollen wir auch nicht verschweigen, wie hinwiederum sympathisch, französischer Denkungsweise durchaus unerreichbar, sich dasselbe häufig bei ihr offenbart. Wir denken dabei unter Anderem an den Hymnus auf den Sieg der Mutterliebe über den leidenschaftlichen Emancipationsdrang in „Ein Arzt der Seele“, an Ernestine’s jubelndes Bekenntniß: „Ich bin Mutter! O Johannes, was käme dieser stolzen Freude gleich? Ich beneide keinen Mann mehr und unser Mädchen soll es dereinst auch nicht thun. Es soll aufwachsen im Schoße der Liebe, und soll das jugendliche Haupt stolz erheben zu der geistigen Höhe, welche das Weib erreichen muß, um dem Mann eine würdige Gefährtin zu sein, aber mit jeder Faser soll es in dem Boden wurzeln, aus dem wir doch die besten Kräfte ziehen: in dem alten geheiligten Boden der Familie. Dann spricht es vielleicht zu einem theuren Mann, wie ich jetzt zu Dir: Wohl mir, daß ich ein Weib!“ Wir denken ferner an das Gespräch zwischen Alfred v. Salten und dem Könige in dem Roman „Aus eigener Kraft“, wo der adelige Sprecher, ein echt deutscher Individualist, den demokratischen Grundsätzen das Wort redet. Der König fragt ihn scherzhaft, ob er ein Feind des Adels sei. „Nein Majestät, nicht des Adels,“ lautet die Antwort, „nur seiner Vorrechte, denn unter ihrem Schutze spreizt sich auch die Unfähigkeit und nimmt dem Verdienste den Platz weg.“ Endlich schwebt uns das wunderbar stimmungsvolle Bild von der Ruhe nach der Schlacht in demselben Roman vor der Erinnerung, ein Bild, das so, just so, kein Meissonier und kein Horace Vernet[WS 1] zu Stande bringt. „Vom fernen Kirchthurm läutet es den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ernest Meissonier (1815–1891) und Horace Vernet (1789–1863): französische Künstler
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie.. Deutsche Rundschau. Herausgegeben von Julius Rodenberg. Gebrüder Paetell., Berlin 1880, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DeutscheRundschau_1880_23_109.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)