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W. Wernigh, Ingenieur: Zusammenstellung der Vorzüge und Nachtheile einiger Ketten- und Seilschiffahrts-Systeme In:Deutsche Bauzeitung, 16. Jg. 1882, Seiten 275-277

Nochmals ein Beitrag zur Frage: Ketten- oder Seilschiffahrt?[1]
Zusammenstellung der Vorzüge und Nachtheile einiger Ketten- und Seilschiffahrts-Systeme.
I. Kettenschiff der „Deutschen Elbschiffahrts-Gesellschaft.“

Bei demselben wird die Uebertragung der Kraft durch die ruhende Reibung eines Trommelpaares und die Endspannung und Abführung der Kette über die Schiffsmitte durch deren eigene Schwere bewirkt; der Durchmesser des Ketteneisens ist 25,4 mm.

Vorzüge.

Die Kette läuft über die Mitte des Schiffes und es befindet sich daher das Triebwerk im Schiffsmittel. Durch die symmetrische Anordnung der Gewichte wird ein geringes Deplacement erreicht und somit: geringer Tiefgang des Kettenschiffes – Einfachheit des Windewerks – geringer Preis des Kettenschiffes.

Das Kettenschiff gestattet ein Vor- und Rückwärtsfahren und ermöglicht hierdurch eine Wiederverlegung der Kette in das richtige Fahrwasser[WS 1] während der Thalfahrt.

Kollisionen mit anderen Fahrzeugen können durch sofortige Aenderung der Fahrrichtung leicht vermieden werden.

Die schwere Kette bleibt beim Befahren von Kurven besser liegen und erleichtert hierdurch die Bergfahrt.

Die während des Befahrens von Kurven durch Herholen überflüssig werdende oder stellenweise zu viel vorhandene Kettenlänge wird von dem Kettenkasten hinter dem Trommelpaare aufgenommen und läuft während der Fahrt je nach Erforderniss von selbst wieder vom hinteren Ende des Schiffes ab. Hierdurch wird das Befahren der Kurven erleichtert. Beim Befahren von sehr kleinen Kurven und bei gleichzeitig kiesigem Flussbette wie z. B. auf dem Neckar ist jedoch das Schricken[WS 2] trotzdem nicht ganz zu vermeiden.

Bei Brüchen der Kette ist die Wiedervereinigung der Enden leicht auszuführen, mittels des Kettenschlosses.

Die Abänderung der Länge der Kette bei Veränderung des Fahrwassers ist leicht zu bewerkstelligen: Die Kette wird durchhauen und das einzuschaltende Stück mittels Kettenschlösser mit den Enden der Kette verbunden. Zur Verkürzung der Kette werden zwei Glieder durchhauen und alsdann die Enden der Kette durch ein Schloss vereinigt.

Die Kette erleidet weniger leicht eine Beschädigung durch Anker etc. oder durch das Schleifen derselben auf dem Flussbette und ist weniger leicht einer absichtlichen Beschädigung ausgesetzt als das Drahtseil.

Die alte Kette ist leicht verkäuflich. –

Nachtheile.

Die Zu- und Ableitung der Kette findet durch sogen. Ausleger sehr nahe an den Enden des Kettenschiffs statt und es ist gleichzeitig der Aufhub der Kette vom Flussbette durch das große Gewicht derselben ein sehr geringer, daher: geringe Steuerfähigkeit des Kettenschiffs.

Bedeutende Abnützung aller Theile mit welchen die Kette in Berührung kommt: stehende und liegende Glieder der Kette wirken ähnlich wie eine Säge, daher: Sehr bedeutende Reparaturkosten und schädliche Einwirkungen der Erschütterungen, welche durch die Kette verursacht werden, auf Maschine und Schiffskörper.

Um die Kette bei der Thalfahrt wieder in das richtige Fahrwasser zu legen, wird dieselbe mit ca. 3 m Fahrgeschwindigkeit ausgeführt. Hierbei bedeutende Abnutzung der Kette und der maschinellen Theile und Veranlassung zu Kettenbrüchen.

Die Kettenschiffe müssen bei Flüssen, bei welchen starke Versandungen vorkommen, stärkere Maschinen erhalten als zur Schleppleistung nöthig ist.

Die vorliegende Kettenschiff-Konstruktion kann nicht in kleinen Dimensionen ausgeführt werden, da durch die der Kette entsprechenden Stärke des Triebwerks eine Aenderung der Größe nur geringen Spielraum gestattet.

Bei dem großen Gewicht der Kette (pro m 15 kg) findet durch den schrägen Anzug während der Fahrt Kraftverlust statt.

Bedeutende Schwierigkeit bei Versandungen. Es ist wegen der ungleichen Abnutzung der Trommelrillen und der hierdurch veranlassten Ueberanstrengung (Kettenbrüche) der Kette eine größere als die der Schleppleistung entsprechende Stärke zu geben.

Längung der Kette zwischen den Trommeln und starke Abnutzung derselben. (Auf der Elbe bis 1873: Kettenlängung auf 44 Meilen 1 Meile, also 2,2 % oder auf 1 m Länge ca. 22 mm.)

Unsicherheit der vielen Schweißstellen der Kette (pro Meile Länge 98 425 Schweißungen).

Hohe Anlagekosten der Kette: pro 100 kg 31,5 M. – pro m 4,725 M. – pro Meile 35 437 M.

Die Kette ist in tiefem Wasser nicht verwendbar wegen bedeutenden Kraftverlustes und übermäßiger Beanspruchung derselben durch den hohen Aufhub vom Flussbette, namentlich beim Befahren gerader Strecken.

Die Schiffer bleiben mit den Ankern in der schweren Kette hängen und müssen abwarten, bis ein Kettendampfer den Anker wieder frei hebt.

Die Reservekette, welche bei Veränderung des Fahrwassers erforderlich ist, verursacht große Kosten, da alle Kettendampfer der betr. Tauerei-Anlage mit einer solchen versehen werden müssen. –

II. Drahtseil-Schleppschiff der „Zentral-Aktien-Gesellschaft für Tauerei und Schleppschiffahrt“.
(Rhein-Strecke: Bingen–Obercassel.)

Die Uebertragung der Kraft wird durch die Fowler’sche Klappentrommel und direkte seitliche Abführung des Seiles in das Flussbett bewirkt. (Durchmesser des schmiedeisernen Kabels 42 mm.)

Vorzüge:

Größere Steuerfähigkeit des Seilschiffs als der Kettendampfer (jedoch nach einer Seite hin geringer als nach der anderen). Geringeres Gewicht des Seils, pro m 7 kg, daher geringerer Kraftverlust durch schrägen Anzug des Seils während der Fahrt. Geringere Anlagekosten des Seils, pro 100 kg 40 M. – pro m 2,8 M. – pro Meile 21 000 M.Versandungen sind mit etwas geringerer Schwierigkeit als bei der Kette zu überwinden.

Nachtheile.

Das Triebwerk ist einseitig aufs Schiff gelagert, daher: großer Tiefgang desselben – komplizirtes Windewerkgrößere Anlagekosten des Seilschiffes als das Kettenschiff. – Der Tauer kann nicht am Seil rückwärts fahren, daher sind bei engem Fahrwasser leicht Kollisionen möglich. – Trommel und Leitrollen sind außerhalb des Schiffes angebracht, daher leicht Kollisionen mit Fahrzeugen und Flößen entstehen.

Soll das Seilschiff die Thalfahrt am Seile bewerkstelligen, so muss letzteres abgeworfen, der Tauer umgedreht und das Kabel


  1. Vergl. die bezgl. Mittheilungen in den No. 38 u. 39 cr. dies. Bl.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Fahrwaser
  2. Eine belegte Leine mit wenigen Törns (Tauwindungen) teilweise von ihrem Beschlag lösen, dann eine Kleinigkeit fieren (nachgeben) und wieder belegen
Empfohlene Zitierweise:
W. Wernigh, Ingenieur: Zusammenstellung der Vorzüge und Nachtheile einiger Ketten- und Seilschiffahrts-Systeme In:Deutsche Bauzeitung, 16. Jg. 1882, Seiten 275-277. Kommissionsverlag von Ernst Toeche, Berlin 1882, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Bauzeitung_No._47_p275.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)