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222.
Der Krötenstuhl[1].
Die Brautschau, ein Mährlein von C. F. W. Magdeburg 1796.


Auf Nothweiler, einer elsäßischen Burg im Wasgau, lebte vor alten Zeiten die schöne Tochter eines Herzogs, die aber so stolz war, daß sie keinen ihrer vielen Freier gut genug fand und viele umsonst das Leben verlieren mußten. Zur Strafe wurde sie dafür verwünscht und muß so lang auf einem öden Felsen hausen, bis sie erlöst wird. Nur einmal die Woche, nämlich den Freitag, darf sie sichtbar erscheinen, aber einmal in Gestalt einer Schlange, das zweitemal als Kröte und das drittemal als Jungfrau in, ihrer natürlichen Art. Jeden Freitag wascht sie sich auf dem Felsen, der noch heutigestags der Krötenstuhl heißt, an einem Quellborn und sieht sich dabei in die Weite um, ob niemand nahe, der sie erlöse. Wer das Wagstück unternehmen will, der findet oben auf dem Krötenstuhl eine Muschel mit drei Wahrzeichen: einer Schlangenschuppe, einem Stück Krötenhaut und einer gelben Haarlocke. Diese drei Dinge bei sich tragend, muß er einen Freitag Mittag in die wüste Burg steigen, warten bis sie sich zu waschen kommt und sie drei Wochen hintereinander in jeder ihrer Erscheinungen auf den Mund küssen, ohne zu entfliehen. Wer



  1. In den gemeinen Mundarten heißt der Waldschwamm: Kröten-, oder Paddenstuhl.
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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_340.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)