Dorf hinein. Weil indessen sein Vater bloß die eine
Wiese hatte, mußte er die Kühe immer wieder zu derselben
Weide treiben, er mochte wollen oder nicht.
Es währte lange Zeit, und der Junge hatte die Erscheinung
bald vergessen, da raschelte etwas in den
Blättern an einem schwülen Sommertag und er sah
eine kleine Schlange kriechen, die trug eine blaue Blume
in ihrem Mund und fing plötzlich zu sprechen an:
„hör, guter Jung, du könntest mich erlösen, wenn
du diese Blume nähmest, die ich trage, und die ein
Schlüssel ist zu meinem Kämmerlein droben im Schloß,
da würdest du Gelds die Fülle finden.“ Aber der
Hirtenbub erschrack, da er sie reden hörte, und lief
wieder nach Haus. Und an einem der letzten Herbsttage
hütete er wieder auf der Wiese, da zeigte sie sich
zum drittenmal in der Gestalt der ersten weißen Jungfrau
und gab ihm wieder einen Backenstreich, bat auch
flehentlich, er möchte sie doch erlösen, wozu sie ihm
alle Mittel und Wege angab. All ihr Bitten war
für nichts und wider nichts, denn die Furcht überwältigte
den Buben, daß er sich kreuzte und segnete
und wollte nichts mit dem Gespenst zu thun haben.
Da hohlte die Jungfrau einen tiefen Seufzer und
sprach: „weh, daß ich mein Vertrauen auf dich gesetzt
habe; nun muß ich neuerdings harren und warten, bis
auf der Wiese ein Kirschenbaum wachsen und aus des
Kirschenbaums Holz eine Wiege gemacht seyn wird.
Nur das Kind, das in der Wiege zuerst gewiegt werden
wird, kann mich dereinst erlösen.“ Darauf verschwand
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_342.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)