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261.
Der Knabe zu Colmar.
Mündlich.


Bei Pfeffel in Colmar war ein Kind im Hause, das wollte nie über einen gewissen Flecken im Hausgarten gehen, auf dem seine Cameraden ruhig spielten. Diese wußten nicht warum und zogen es einmal mit Gewalt dahin; da sträubten ihm die Haare empor und kalter Schweiß brach aus seinem Leibe. Wie der Knabe von der Ohnmacht endlich zu sich kam, wurde er um die Ursache befragt, wollte lange nichts gestehen, endlich auf vieles Zureden sagte er: „es liegt an der Stelle ein Mensch begraben, dessen Hände so und so liegen, dessen Beine so und so gestellt sind (welches er alles genau beschrieb) und am Finger der einen Hand hat er einen Ring.“ Man grub nach, der Platz war mit Gras bewachsen und drei Fuß unter der Erde tief fand sich ein Gerippe in der beschriebenen Lage und am benannten Finger ein Ring. Man beerdigte es ordentlich und seitdem ging der Knabe, dem man weder davon noch vom Ausgraben das mindeste gesagt, ruhig auf den Flecken. – Dies Kind hatte die Eigenschaft, daß es an dem Ort, wo Todte lagen, immer ihre ganze Gestalt in Dünsten aufsteigen sah und in allem erkannte. Der vielen schrecklichen Erscheinungen wegen härmte es sich ab und verzehrte schnell sein Leben.



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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_386.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)