Stuhlkissen im Chor eine weiße Rose, daher es
Sitte war, daß jeder, wie er anlangte, sein Kissen
gleich umwendete, zu schauen, ob diese Grabes-Verkündigung
darunter liege. Es geschah, daß einer von
den Domherrn, Namens Rebundus, eines Morgens
diese Rose unter seinem Kissen fand, und weil sie seinen
Augen mehr ein schmerzlicher Dornstachel, als eine
Rose war, nahm er sie behend weg und steckte sie unter
das Stuhlkissen seines nächsten Beisitzers, obgleich
dieser schon darunter nachgesehen und nichts gefunden
hatte. Rebundus, fragte darauf, ob er nicht sein Kissen
umkehren wollte? der andere entgegnete, daß er
es schon gethan, habe; aber Rebundus sagte weiter: er
habe wohl nicht recht zugeschaut und solle noch einmal
nachsehen, denn ihm bedünke, es habe etwas Weißes
darunter geschimmert, als er dahin geblickt. Hierauf
wendete der Domherr sein Kissen um und fand die
Grab-Blume; doch sprach er zornig: das sey Betrug,
denn er habe gleich Anfangs fleißig genug zugeschaut
und unter seinem Sitz keine Rose gefunden. Damit
schob und stieß er sie dem Rebundus wieder unter sein
Kissen, dieser aber wollte sie nicht wieder sich aufdrängen
lassen, also daß sie einer dem andern zuwarf und
ein Streit und heftiges Gezänk zwischen ihnen entstand.
Als sich das Capitel ins Mittel schlug und sie
aus einander bringen, Rebundus aber durchaus nicht
eingestehen wollte, daß er die Rose am ersten gehabt,
sondern auf seinem unwahrhaftigen Vorgeben beharrte,
hub endlich der andere, aus verbitterter Ungeduld,
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_389.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)