Seite:Deutsche Sagen (Grimm) V1 389.jpg

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Stuhlkissen im Chor eine weiße Rose, daher es Sitte war, daß jeder, wie er anlangte, sein Kissen gleich umwendete, zu schauen, ob diese Grabes-Verkündigung darunter liege. Es geschah, daß einer von den Domherrn, Namens Rebundus, eines Morgens diese Rose unter seinem Kissen fand, und weil sie seinen Augen mehr ein schmerzlicher Dornstachel, als eine Rose war, nahm er sie behend weg und steckte sie unter das Stuhlkissen seines nächsten Beisitzers, obgleich dieser schon darunter nachgesehen und nichts gefunden hatte. Rebundus, fragte darauf, ob er nicht sein Kissen umkehren wollte? der andere entgegnete, daß er es schon gethan, habe; aber Rebundus sagte weiter: er habe wohl nicht recht zugeschaut und solle noch einmal nachsehen, denn ihm bedünke, es habe etwas Weißes darunter geschimmert, als er dahin geblickt. Hierauf wendete der Domherr sein Kissen um und fand die Grab-Blume; doch sprach er zornig: das sey Betrug, denn er habe gleich Anfangs fleißig genug zugeschaut und unter seinem Sitz keine Rose gefunden. Damit schob und stieß er sie dem Rebundus wieder unter sein Kissen, dieser aber wollte sie nicht wieder sich aufdrängen lassen, also daß sie einer dem andern zuwarf und ein Streit und heftiges Gezänk zwischen ihnen entstand. Als sich das Capitel ins Mittel schlug und sie aus einander bringen, Rebundus aber durchaus nicht eingestehen wollte, daß er die Rose am ersten gehabt, sondern auf seinem unwahrhaftigen Vorgeben beharrte, hub endlich der andere, aus verbitterter Ungeduld,

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_389.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)