Seite:Deutsche Sagen (Grimm) V1 446.jpg

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durch ihre Zauberkunst und Stärke, da sie oftmals aus Kurzweile ein ganzes Hufeisen zerriß, stets zu entrinnen. Zuletzt jedoch blieb sie gefangen und in einem großen Saal, welcher bei dem Thor, dadurch man aus dem Niederschloß ins Oberschloß gehet, vermauert. Da kam sie ums Leben und zum Andenken stehet ihr Bildniß links deßelben Thors an der Mauer über den tiefen Graben in Stein ausgehauen und wird bis auf den heutigen Tag allen fremden Leuten gezeigt. Außerdem hing ihr Gemählde im grünen Schloßsaal und in der Schloßkirche an einem eisernen Nagel in der Wand schön gelbes Haar, etlichemal aufgeflochten nach der Länge. Die Leute nennen es allgemein: das Haar der Heidenjungfrau; es hanget so hoch, daß es ein großer Mann auf der Erden stehend mit der Hand erreichen kann, ungefähr drei Schritt von der Thüre weit. Sie soll in der Gestalt und Kleidung, wie sie abgemalet wird, öfters im Schlosse erscheinen, beleidiget doch niemanden, außer wer sie höhnt und spottet, oder ihre Haarflechte aus der Kirche wegzunehmen gedenkt. Zu einem Soldat, der sie verspottet, kam sie auf die Schildwache und gab ihm mit kalter Hand einen Backenstreich. Einem andern, der das Haar entwendet, erschien sie Nachts, kratzte und krengelte ihn bis nahe an den Tod, wenn er nicht schnell durch seinen Rottgesellen das Haar wieder an den alten Ort hätte tragen lassen.


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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_446.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)