Seite:Deutsche Sagen (Grimm) V2 104.jpg

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daß sie für gemeines Volk angesehn werden, oder sie zu tödten, und unsers Bruders hinterlassenes Reich unter uns zu theilen.“ Chlotar freute sich der Botschaft, ging in die Stadt Paris, und rathschlagte. Darauf beschickten sie vereint ihre Mutter, und ließen ihr sagen: „sende uns die beiden Kleinen, damit sie eingesetzt werden in ihre Würde.“ Denn es hatte auch Childebert öffentlich geprahlt, als wenn er mit Chlotar darum zusammenkomme, um die Knaben im Reich zu bestätigen. Crothild erfreut und nichts Arges ahnend, gab den Kindern zu essen und zu trinken, und sprach: „den Tod meines Sohnes will ich verschmerzen, wenn ich euch an seine Stelle erhoben sehen werde.“ Die Knaben gingen also hin, wurden sogleich ergriffen, von ihren Spieldienern und Erziehern abgesondert, und gefangen gehalten.

Darauf sandten Childebert und Chlotar einen Boten zur alten Königin mit einer Scheere und mit einem entblößten Schwert. Der Bote kam und zeigte ihr beiderlei mit den Worten: „Durchlauchtigste Königin! deine Söhne, meine Herren, verlangen deine Meinung zu wissen, was mit den beiden Kindern zu thun sey, ob sie mit abgeschnittenen Haaren leben, oder vom Leben zum Tod zu bringen seyen?“ Da erschrak die unglückliche Großmutter und zürnte, und das bloße Schwert und die Scheere ansehend: „lieber will ich – sprach sie – wenn ihnen ihr Reich doch nicht werden soll, sie todt sehen, als geschoren." – Bald darauf wurden die Knaben ertödtet.


Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_104.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)