Seite:Deutsche Sagen (Grimm) V2 276.jpg

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Sobald die edle Frau das Lied hörte, trübten sich ihre klare Augen, und einen goldnen Becher setzte sie dem Pilgrim hin, in den schenkte sie klaren Wein. Möringer aber zog ein goldrothes Fingerlein von seiner Hand, womit ihm seine liebste Frau vermählt worden war, senkt es in den Becher und gab ihn dem Weinschenken, daß er ihn der edlen Frau vorsetzen sollte. Der Weinschenk brachte ihn: das sendet euch der Pilger, laßt’s euch nicht verschmähen, edle Frau. Und als sie trank und das Fingerlein im Becher sah, rief sie laut: mein Herr ist hier, der edle Möringer, stand auf und fiel ihm zu Füßen. Gott, willkommen, liebster Herr, und laßt euer Trauern seyn! meine Ehr hab ich noch behalten, und hätt’ ich sie verbrochen, so sollt ihr mich vermauern lassen. Aber der Herr von Neufen erschrak, und fiel auch auf die Knie: liebster Herr, Treu und Eid hab ich gebrochen, darum schlagt mir ab mein Haupt! – Das soll nicht seyn, Herr von Neufen! sondern ich will euren Kummer lindern und euch meine Tochter zur Ehe geben; nehmt sie und laßt mir meine alte Braut. Deß war der von Neufen froh, und nahm die Tochter; Mutter und Tochter waren beide zarte Frauen, und beide Herren waren wohl geboren.


Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_276.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)