Sobald die edle Frau das Lied hörte, trübten
sich ihre klare Augen, und einen goldnen Becher setzte
sie dem Pilgrim hin, in den schenkte sie klaren Wein.
Möringer aber zog ein goldrothes Fingerlein von seiner
Hand, womit ihm seine liebste Frau vermählt
worden war, senkt es in den Becher und gab ihn dem
Weinschenken, daß er ihn der edlen Frau vorsetzen
sollte. Der Weinschenk brachte ihn: das sendet euch
der Pilger, laßt’s euch nicht verschmähen, edle Frau.
Und als sie trank und das Fingerlein im Becher sah,
rief sie laut: mein Herr ist hier, der edle Möringer,
stand auf und fiel ihm zu Füßen. Gott, willkommen,
liebster Herr, und laßt euer Trauern seyn! meine Ehr
hab ich noch behalten, und hätt’ ich sie verbrochen, so
sollt ihr mich vermauern lassen. Aber der Herr von
Neufen erschrak, und fiel auch auf die Knie: liebster
Herr, Treu und Eid hab ich gebrochen, darum schlagt
mir ab mein Haupt! – Das soll nicht seyn, Herr von
Neufen! sondern ich will euren Kummer lindern und
euch meine Tochter zur Ehe geben; nehmt sie und
laßt mir meine alte Braut. Deß war der von Neufen
froh, und nahm die Tochter; Mutter und Tochter
waren beide zarte Frauen, und beide Herren waren
wohl geboren.
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_276.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)