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Von jener Seite steht an Baches Rand

Ein’ Mädchenreih’ auf schatt’gem Erlenhügel,
Von dieser auch auf schroffem Buchenfels,
Und hin und her,
In mannigfach verschlung’nem Flug und Maaß,

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Schwingen sich golddurchwirkte, bunte Bälle.

Da aus Ludmillens zarter Hand
Fliegt einer hoch empor in blaue Luft,
Zu hoch, denn streifend an das Buchengrün,
Fehlt er die Bahn, stürzt in des Baches Flut.

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„Oh Schad’, o Schade!“ seufzt das Fräulein auf,

„Er war der liebste mir von all’ den Bällen.“ –
Kaum noch entflog dem ros’gen Mund das Wort,
So fliegt ein Jüngling aus dem Busch hervor,
Im grünen Pirschgewand, schlank, Hirsches schnell,

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Taucht in die rasche Woge, taucht empor,

Und bringt, anklimmend auf den Buchenfelsen,
Den schönen Ball der schönen Magd zurück.
Die steht erröthend und erschreckt.
Der Jüngling aber schaut aus hellen Augen

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Sie freundlich an, und spricht: „so nehmt doch hin!

Ihr habt ja so verlangt nach Euerm Spielzeug,
Daß mir es recht bis an die Seele gieng.
Da ist es ja.“ – Sie nimmt und dankt.
Er aber sagt: „nach Wölfen zog ich aus,

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Und fing ’nen Ball. Ei wunderliches Waidwerk!“

Und lacht recht herzlich; auch die Jungfrau lächelt.
Wie sie ihm aber mehr in’s Antlitz schaut,
Erkennt sie staunend
Den hochgewalt’gen Freiherrn von der Reck,

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Den sie wohl sonst im Ritterprunk gesehn
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_217.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)