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54. Die Eule und der Adler.


Mäßig. Mündlich, aus Schlesien. (Waltdorf bei Neiße.)
Noten
Noten


1.
Es saß ein Eule ganz allein

wol auf dem breiten Steine;
da kam der Adler, der schönste Waldvogl:
„Was machst du hier alleine?“

2.
‚‚‚Und was ich hier alleine mach?

ich bin ein arme Waise:
der Vater ist mir im Krieg erschlagn,
die Mutter gestorbn vor Leide.‘‘‘

3.
„Ist dir der Vater im Krieg erschlagn,

die Mutter gestorbn vor Leide:
willst mich zu einem Manne habn,
ich nehm dich zu einem Weibe.“

4.
Die Eule streicht ihr sGewimper aus,

sie schaut ihm unter die Augen:
‚‚‚Ei Adler, wärst der schönste Waldvogl:
man darf dich wol nicht trauen?‘‘‘

5.
„Und wenn du mir nicht trauen willst,

mein Ehr setz ich zu Pfande!
Zieh du zuvor, ich zieh dir nach,
so ziehn wir aus dem Lande.“

6.
Und wie sie kamen in Adlers Land,

in Adlers sein Geniste,
da gabs der Federn gar so viel,
aus andern Vögeln gerissen.

7.
Ei seht nur, seht, ihr Mädel jung,

und laßt euch nicht betrügen:
die Knäblein die am schönsten sind,
die sind die größten Lügner.

8.
Und wenn sie Eine betrogen han,

so ziehn sie aus dem Lande;
das gute Mädel mag sitzen bleibn
in lauter Spott und Schande.

(Mitgetheilt durch Hrn. Prof. Hoffmann v. F.)

1, 2. Auf einem großen Steine. 1, 3. da kam der allerschönst Waldvogl. – 4, 3. Ei Adler, wärst ein Vogel schön, dürft man dir nur vertrauen! – 5, 3. Setz du dich auf mein Flügel breit und flieg mit mir ins Lande! – 7, 3. sind gleich die Bürschlein noch so schön, sie könn gar höflich lügen.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Erk (Herausgeber): Deutscher Liederhort. Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin, Berlin 1856, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Liederhort_(Erk)_191.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2019)