Seite:Deutscher Liederhort (Erk) 201.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


58a. Gespräch mit der Nachtigall.
1.
Dort droben vor meins Vaters Haus

da steht ein grüne Linde;
darauf setzt sich Frau Nachtigall
und sang mit heller Stimme.

2.
„Frau Nachtigall, klein Vögelein,

willst du mich lehren singen?
ich will dir dein Fuß mit Gold beschlan,
dein Händ mit goldnen Ringen.“

3.
‚‚‚Was frag ich nach dem rothen Gold,

was frag ich nach Goldringen?
ich bin des Walds klein Vögelein,
kein Mann kann mich bezwingen.‘‘‘

4.
„Bist du des Walds klein Vögelein,

kann dich kein Mann bezwingen:
so zwingt dich Reif und kalter Schnee
und sLaub wol von der Linden.“

5.
‚‚‚Und wann die Linde das Laub verliert,

so trauern alle Aeste:
daran gedenkt, ihr Mädchen jung,
und halt eur Kränzlein feste!‘‘‘

(Mündlich, aus der Gegend von Bonn. Vgl. K. Simrock’s Volkslieder. S. 176, und Hoffmann’s v. F. Horae belgicae. II. 141.)


58b. Warnung.
1.
Die Truschel und Frau Nachtigall

die saßen auf einer Linden:
„Ach du mein herzallerliebster Schatz,
wo werd ich dich Abends finden?“

2.
Wo du mich Abends finden wirst,

des Morgens wirds dich reuen.
„Ach du mein herzallerliebster Schatz,
was brichst du mir die Treue!“

3.
Und all dein Treu die mag ich nicht,

will doch viel lieber sterben;
was soll ich dann mein jung frisch Blut
an einem Knaben verderben.

4.
Ach Mädchen, behalt dein Ehre fest

und laß dich nicht betriegen;
denn Geld und Gut ist bald verzehrt,
dein Ehr ist nimmer zu kriegen.

5.
Ach Mädchen, behalt dein Ehre fest,

als wie der Baum sein Aeste;
und wenn das Laub herunter fällt,
so trauren alle Aestcher.

6.
Wenn Einer dich betrogen hat,

so zieht er aus dem Lande;
er steckt die Feder auf sein Hut,
läßt sMädchen brav in Schande.

(Nach „Des Knaben Wunderhorn.“ B. III, 75. [In der neusten Aufl. B. III, 162.] Mündlich, aus der Gegend von Heidelberg.)

1. Truschel (nicht Trutschel), mhd. drosche, droschel, Droßel.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Erk (Herausgeber): Deutscher Liederhort. Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin, Berlin 1856, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Liederhort_(Erk)_201.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2019)