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Ludwig Erk (Herausgeber): Deutscher Liederhort

gewonnen; die Lieder der vorangehenden Jahrhunderte, welche im Munde des Volkes zum großen Theile, in ihrer alten Form eigentlich ganz ausgestorben sind, sollen die Arbeit des folgenden Bandes bilden. Diese Sonderung des Jüngeren von den älteren Jahrhunderten und das Zurückgehen vom neueren Volksliede zum früheren erachte ich als den einzig heilsamen und fruchtbringenden, für die Erkenntnis des älteren Liedes als den allein sichern Weg. Reiche Anknüpfungspunkte bieten auch nächst der mündlichen Tradition besonders die Quodlibete des 16. und 17. Jahrhunderts[1], dasjenige kennen zu lernen, was damaliger Zeit beim Volke beliebt gewesen; aber das Aechte des Volksliedes in diesen Sammlungen ist eben so schwierig zu erkennen als im Einzeln zu bearbeiten.

Also das Volkslied der Tradition herzustellen, durch besondere Ergründung des Melodischen herzustellen, habe ich mir zur Aufgabe gemacht, und auf diese Thätigkeit will ich noch genauer eingehen. Es mußte mein Bestreben sein, die Melodien möglichst treu und unverfälscht zu geben, aber auch gereinigt von jedem Auswuchs. Diesen Auswüchsen auf die Spur zu kommen, mußte ein Apparat von vielen verschiedenen Lesarten aus sehr vielen und den verschiedensten Gegenden Deutschlands zusammen gebracht werden, wobei persönliche Bemühung und der dankenswertheste Eifer meiner Freunde in allen Theilen des Vaterlandes mit dem besten Erfolg gewaltet haben. So erst konnten Lesarten verglichen, mit eindringendem Urtheil gesichtet und gesondert werden; so hat die Ueberlieferung der Melodien bei vielen Liedern in mehrfacher Gestalt gegeben werden können: kein müßiger Ballast, vielmehr, wie ich hoffe, nicht unergiebig für die Geschichte der Musik, wie für die selbständige Kritik dieser Arbeit, deren Zweck es ist, aus den verschiedenen Formen der Mittheilung die bedeutsamste, wirksamste, prägnanteste Melodie zu wählen und zu geben. So auch konnte erreicht werden, daß eine Verwechselung der Originalmelodien mit den sogenannten untergelegten Melodien vermieden würde, von welchen leicht jedes Liederbuch Proben in Fülle bietet. Es kann in dieser Beziehung nicht genug gewarnt werden vor dem allzu eilfertigen Drucken ohne vorangehendes tieferes Eindringen in das Eigenthümliche der mit jedem Liede verwachsenen Originalmelodie. Zu wünschen bleibt auch, daß die Auszeichnungen mehr von solchen gemacht werden, welche der Musik kundig sind[2], wenn gleich bei den Fachmusikern das Volkslied nicht in der


  1. z. B. von Joh. Ott (1534, 1544), Georg Forster (1539–1556), Nic. Zang (1596, 1620), Melchior Franck (1605–1622) u. s. w.
  2. Wer es selbst noch nicht zur Fähigkeit des richtigen Auszeichnens gebracht, sollte wenigstens vorsichtiger in seinem Urtheil über Andere sein. Man vergleiche, um ein nahe liegendes
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Ludwig Erk (Herausgeber): Deutscher Liederhort. Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin, Berlin, Preußen 1856, Seite VII. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Liederhort_(Erk)_p_007.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)