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Bekämpfung der Sozialdemokratie ohne Gewaltmittel.

In der sozialdemokratischen Bewegung habe ich vom ersten bis zum letzten Tage meiner Amtsführung eine sehr ernste und sehr große Gefahr erblickt. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie ist Pflicht jeder deutschen Regierung so lange, bis die Sozialdemokratie niedergerungen oder eine andere geworden ist. Hinsichtlich der Aufgabe selbst kann kein Zweifel bestehen, wohl aber hinsichtlich der Wege und Mittel, die zu wählen sind.

Nachdem das Sozialistengesetz gefallen ist, sind die Wege gewaltsamer Unterdrückung nicht mehr gangbar. Die letzte Möglichkeit für ein Vorgehen in dieser Richtung lag während der Zeit vor, in der ein Mann von so unvergleichlichen Erfolgen, mit einem so unermeßlichen Ansehen wie Fürst Bismarck an der Spitze der Regierung stand. Er hätte in der inneren Politik auch Außerordentliches unternehmen und durchführen können, wie er es auf Grund seines internationalen Ansehens in der auswärtigen Politik vermochte. Unter der politischen Führung Bismarcks war manches möglich und erreichbar, was heute stillschweigend aus dem Bereich der Möglichkeiten ausgeschaltet werden muß. Er war eine politische Voraussetzung für sich. Es ist unvernünftig, wieder und wieder nach Mitteln und Unternehmungen zu verlangen, für die diese Voraussetzung fehlt. Wir müssen vielfach andere Wege gehen und die Kraft und den Willen aufbringen, auf ihnen ohne die Bismarcksche Führerschaft zum Ziele zu gelangen. Das gilt auch für den Kampf gegen die Sozialdemokratie.

Selbstverständlich muß jede Störung der öffentlichen Ordnung mit voller Energie zurückgewiesen werden. Das ist die erste Pflicht jeder Regierung, in jedem geordneten Staatswesen, sei es republikanisch oder monarchisch, möge die Regierung von konservativen, liberalen oder demokratischen Tendenzen geleitet sein. Die Entschlossenheit, mit der in Frankreich aus der radikalen Partei hervorgegangene Minister Versuche, die öffentliche Ordnung zu stören, mit aller wünschenswerten Promptheit niedergeschlagen haben, kann jedem Minister in anderen Ländern als Vorbild dienen. Falsche Rücksicht in dieser Hinsicht ist Rücksichtslosigkeit gegen die große Mehrheit des Bürgertums, die Anspruch hat, unter dem Schutze geordneter Zustände zu arbeiten. Zu diesem Sinne hat auch Goethe, der den politischen Dingen nicht so gleichgültig gegenüberstand, wie oft angenommen wird, die Erhaltung der öffentlichen Ordnung als die erste Pflicht jeder Regierung bezeichnet. Aus solchem Gefühl setzte Schopenhauer, gewiß ein freier Geist, zu seinem Universalerben den in Berlin errichteten Fonds ein, der bestimmt war „zur Unterstützung der in den Aufruhr- und Empörungskämpfen der Jahre 1848 und 1849 für Aufrechterhaltung und Herstellung der gesetzlichen Ordnung in Deutschland invalide gewordenen preußischen Soldaten“. Aber etwas anderes ist es, ob die Regierung gegen Ruhestörung mit Gewalt vorgeht, etwas anderes, ob sie selbst in die ruhige Entwicklung eingreift, um einer etwaigen Entladung einer radikalen Bewegung im Volke vorzubeugen. Im letzteren Falle läuft sie Gefahr, durch Gewalt erst Gewalt zu erwecken, die möglicherweise sonst nicht zum Ausbruch gekommen wäre. Jeder Stoß erzeugt einen Gegenstoß von entsprechender Stärke. Eine an sich starke, wohlorganisierte, auf weite und zuverlässige Sympathien gestützte politische Bewegung im Volk wird in

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/101&oldid=- (Version vom 31.7.2018)