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die überlegene Einsicht, der starke Wille eines Mirabeau die liberale Bourgeoisie an der Monarchie fest- und von den Jakobinern fernhielt, lag die relativ ruhige Überleitung Frankreichs in die Formen des konstitutionellen Königtums im Bereich der Möglichkeit. Als nach seinem Tod die Gironde an den Berg heranrückte, und das Bürgertum sich mit den städtischen Massen gegen die Anhänger des alten Regimes und die konstitutionellen Monarchisten verbündete, war der Untergang der Monarchie und des alten Frankreichs besiegelt und für immer besiegelt. Einer ähnlichen Koalition zwischen Kopf und Faust erlag nach kaum fünfzehnjährigem Bestand im Jahre 1830 die Restauration der legitimen Monarchie. In den Märzstürmen von 1848 war die Revolution erfolgreich, weil die Massen Unterstützung und Führung in den gebildeten Schichten fanden. Wo das Proletariat isoliert gefochten hat, wie in der Pariser Junischlacht und während der Kommune, ist es noch immer unterlegen. Ein isoliertes Proletariat, mag es an sich noch so zahlreich sein, ist immer nur eine Minderheit im Volke. Auch den vier Millionen sozialdemokratischer Wähler vom Jahre 1912 stehen noch immer acht Millionen nicht sozialdemokratischer Wähler gegenüber. Auf sich selbst angewiesen, kann das Proletariat die numerische Mehrheit im Volk nicht gewinnen. Das ist nur möglich, wenn ihm vom Bürgertum Sukkurs kommt. Das in erster Linie gilt es zu verhindern. Die Sozialdemokratie kann nur isoliert werden, wenn der Liberalismus von ihr ferngehalten, an die Regierung und zur Rechten hinübergezogen wird. Das ist aber nicht zu erreichen durch ölige Ermahnungen an den Liberalismus, er möge doch um Gottes Willen den roten Nachbarn meiden. Die Trennung des Liberalismus von der Sozialdemokratie kann nur bewirkt werden im Zuge der praktischen Politik durch eine entsprechende Gruppierung der Parteien. In der Aufgabe, die Sozialdemokratie von der bürgerlichen Intelligenz zu trennen, liegt einer der Gründe, aus denen auch innerlich ganz oder überwiegend konservativ gerichtete Minister so regieren müssen, daß der Liberalismus nicht abgestoßen wird.

Sozialdemokratie und Arbeiterschaft.

Die sozialistischen Träume müssen an sich etwas Bestechendes haben für den vielfach noch von Not umgebenen, um seine und seiner Familie Existenz schwer ringenden Arbeiter. Mein Amtsvorgänger, Fürst Hohenlohe, pflegte den Sozialismus den Traum des armen Mannes zu nennen. Das ungeschulte Urteilsvermögen des einfachen Mannes wird den bestrickenden Sophismen der sozialistischen Lehre nur zu leicht erliegen. Es sind doch große Hoffnungen, die die Sozialdemokratie vor den Arbeitern aufrichtet, blendende Versprechungen, die sie ihnen gibt. Und es ist eine alte Wahrheit, daß die Menschen an nichts so sehr hängen wie an ihren Hoffnungen, daß sie, vor die Wahl gestellt zwischen einer großen Hoffnung und einer kleinen Erfüllung, die Hoffnung wählen. Wir dürfen nicht aufhören, unseren lohnarbeitenden Mitbürgern die Wahrheit vorzuhalten, daß die sozialistischen Versprechungen trügerisch sind, daß der Sozialismus nicht das große Wunder vollbringen wird, Not, Sorge und wirtschaftlichen Kampf zu beseitigen, daß die handgreifliche soziale Fürsorge, die der bestehende Staat, die bestehende Gesellschaft leisten, mehr wert ist als die nie erfüllbaren Versprechungen der Sozialdemokratie. Wir müssen unbeirrt um die Seelen unserer Arbeiter ringen, müssen suchen, den sozialdemokratischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/111&oldid=- (Version vom 13.9.2017)