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gekommen war, kennzeichnete der große König in einer Zeit, die das Nationalitätenproblem noch gar nicht kannte, die künftige Kulturaufgabe Preußens in den polnischen Gebieten als eine Germanisierung. Alsbald nach der Besitzergreifung begann er mit dem Ansiedlungswerk, für das er seine Siedler in ganz Deutschland suchte und fand. Auch der König setzte nur fort, was im Mittelalter begonnen war, die nationale Eroberung des deutschen Ostens durch die Ansiedlung[WS 1] deutscher Landwirte auf dem Lande, deutscher Handwerker, Kaufleute und Gewerbetreibender in den Städten. Und als Bismarck mit seiner Ansiedlungspolitik im Jahre 1886 in größerem Maßstabe vorging, da griff er, wie in so vielen der größten seiner nationalen Entschlüsse, die Zügel auf, die der große König gehalten hatte und die nach seinem Tode am Boden geschleift hatten. Ein Beweis unter vielen, wie einheitlich die nationale Geschichte der Völker ist, ein Beweis, daß es in nationaler Hinsicht nicht zwei Möglichkeiten von gleichem Recht, sondern nur eine von eigenem Recht gibt. So wahr es ist, daß wir unter den veränderten Verhältnissen die großen Vorbilder der Vergangenheit nicht sklavisch nachahmen dürfen, so wahr ist es aber auch, daß die großen nationalen Gesichtspunkte, die unsere größten Männer geleitet haben, ihren Wert für alle Zeiten und Gelegenheiten behaupten, und daß man ungestraft nicht dagegen sündigen kann.

Es ist bekannt, daß Preußen von dem ungeheuren Zuwachs an ehemals polnischem Gebiet, das ihm die zweite und dritte Aufteilung Polens gebracht hatten, bei seiner Wiederherstellung im Jahre 1815 nur einen geringen Teil behalten hat, neben Westpreußen, die heutige Provinz Posen, im ganzen nicht mehr als 7½ % vom alten Königreich Polen. War auch die Provinz Posen mit ihrem seit dem Jahre 1000 bestehenden Erzbistum das Herzstück des polnischen Reiches gewesen, so war es doch im Laufe der Jahrhunderte der Teil des großen Reiches geworden, der am stärksten mit deutschem Element durchsetzt worden war. Mit der Eingliederung dieser alteingesessenen deutschen Bevölkerung in den Ostlanden übernahm Preußen eine nationale deutsche Pflicht neben den natürlichen staatlichen Pflichten gegenüber den Polen, die auf seinem Staatsgebiet wohnen und preußische Landeskinder geworden sind.

Trotzdem die Polen das Recht auf selbständiges staatliches Leben verwirkt haben, nachdem sie Jahrhunderte hindurch außerstande gewesen waren, auf dem Grund staatlichen Rechts und staatlicher Ordnung staatliche Macht zu schaffen, wird doch niemand die Augen schließen dürfen vor der Tragik des Schicksals dieses hochbegabten und tapferen Volkes. Wie es unrecht ist, im berechtigten und notwendigen Kampf gegen die Sozialdemokratie den arbeitenden Klassen zu nahe zu treten, so ist es unrecht, dem von der Staatsräson gebotenen Kampf gegen die großpolnische Propaganda eine Spitze gegen unsere polnischen Mitbürger zu geben, die so tapfer in den Kriegen 1866 und 1870 unter den preußischen Fahnen gekämpft haben. Wir müssen Achtung und, gerade weil wir unser eigenes Volkstum hochhalten, Mitgefühl haben für die Treue, mit der der Pole an seinen nationalen Erinnerungen hängt. Aber diese Achtung und dieses Mitgefühl haben ihre Grenze da, wo der bewußte Wunsch und das Streben der großpolnischen Propaganda einsetzen, den Bestand der preußischen Monarchie in Frage zu stellen und an ihrer Einheit und Geschlossenheit zu rütteln. Alle Rücksicht auf die polnische

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Andiedlung
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/138&oldid=- (Version vom 31.7.2018)