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Nationalität darf uns nicht hindern, für die Erhaltung und Stärkung des Deutschtums in den ehemals polnischen Gebieten zu sorgen. Niemand denkt daran, unsere Polen von preußischem Staatsgebiet verdrängen zu wollen. Wie sehr sich unter preußischer Verwaltung die Lage der Polen gehoben hat, das geben auch die deutschen Gegner einer entschlossenen Ostmarkenpolitik zu, das können die Polen selbst nicht ernstlich bestreiten. Aber es ist die deutsche Pflicht und das deutsche Recht des preußischen Staates, dafür zu sorgen, daß unsere Deutschen nicht von den Polen im Osten Deutschlands verdrängt werden. Die Ostmarkenpolitik hat nichts weniger zur Aufgabe als einen Kampf gegen die Polen, sondern ihre Aufgabe ist die des Schutzes, der Erhaltung und Verstärkung des Deutschtums neben den Polen, also ein Kampf um das Deutschtum. Dieser Kampf durchzieht, mit wechselndem Erfolge und mit wechselnden Mitteln geführt, die beinahe 100 Jahre, die nun vergangen sind, seit der Festsetzung der Grenzen des wiederhergestellten preußischen Staates auf dem Wiener Kongreß. Die Aufgabe der Lösung der polnischen Frage wäre für Preußen wie für die Polen vielleicht leichter gewesen, wenn nicht die erkünstelte und unhaltbare napoleonische Schöpfung des Großherzogtums Warschau den Polen die trügerische Hoffnung erweckt hätte, es könnte im Zuge europäischer Verwicklungen eine Wiederherstellung der polnischen Selbständigkeit möglich sein. Die schmerzlichen Erfahrungen von 1830, 1848 und 1863 wären den Polen diesseits und jenseits der preußischen Grenze vielleicht erspart geblieben, wenn in ihnen die Erinnerung an die ephemere Staatsschöpfung des ersten Napoleon nicht gelebt hätte. Der Gedanke daran, daß die Aufteilung der polnischen Republik unter die Ostmächte von 1793 bis 1807 nur ein Provisorium gewesen war, erschwerte es naturgemäß den Polen, die vollendete Tatsache nach dem Sturz Napoleons und seiner für die militärischen Zwecke Frankreichs gegründeten Staaten als ein Definitivum anzusehen.

Preußens Aufgabe.

Die Aufgabe, die Preußen in seinen 1815 zurückgewonnenen und seit 1772 im Besitz befindlichen ehemals polnischen Gebieten zu erfüllen hatte, lag einfach genug. Es mußte auf der einen Seite der großpolnischen Propaganda nachdrücklich entgegentreten, auf der anderen Seite für die Erhaltung und Förderung des Deutschtums in den Ostlanden Sorge tragen. Beide Pflichten bedingten einander insofern, als die nationalen Hoffnungen der Polen in dem Maße an Boden verlieren mußten, wie ihnen ein starkes Deutschtum, das in den Ostprovinzen angesessen war, die Wage hielt. Wäre diese Aufgabe von Anfang an nach den Freiheitskriegen so klar erkannt und so fest angegriffen worden, wie es Friedrich der Große getan hatte, hätte sich die preußische Regierung nicht wiederholt im Zuge mißverstandener Zeitstimmungen von der so klar vorgezeichneten Richtung abbringen lassen, so wären wir heute mit Sicherheit ein gutes Stück weiter auf dem Wege zur Lösung unseres Ostmarkenproblems. Wie oft in der Politik beging man die Fehler nicht dadurch, daß man mit schneller Entschlußkraft das Nächstliegende tat, sondern dadurch, daß man unter Sentiments und Bedenklichkeiten einen klaren, zweifelsfreien Entschluß überhaupt nicht finden konnte. Auch in der Politik ist das Einfachste zwar nicht immer aber doch meistens das Beste.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/139&oldid=- (Version vom 31.7.2018)