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anderen Deutschland werden sahen, unter einem heldenhaften und staatsklugen Herrscherhause in Kämpfen und Entbehrungen die staatliche Zukunft Deutschlands vorbereitet. Im Westen und Süden Deutschlands ist der deutsche Geist gebildet worden, in Preußen der deutsche Staat. Die Fürsten des Westens sind die Pfleger deutscher Bildung gewesen, die Hohenzollern die politischen Lehr- und Zuchtmeister. Es hat lange gedauert, ehe man in Deutschland die Bedeutung Preußens, an dem selbst Goethe nur den großen König liebte, begriff, ehe man erkannte, daß dieser rauhe, durch und durch prosaische Militär- und Beamtenstaat ohne große Worte aber mit desto größeren Taten ein deutsches Kulturwerk ersten Ranges schuf, daß er die politische Kultur des deutschen Volkes vorbereitete. Der preußische Staat ist für Deutschland geworden, was Rom für die antike Welt gewesen ist. Der geistig universalste und dabei preußischste der deutschen Historiker Leopold v. Ranke, sagt in seiner Weltgeschichte, es sei die Aufgabe der antiken Welt gewesen, den griechischen Geist mit dem römischen zu durchdringen. Die antike Bildung, in der das Geistesleben Westeuropas mit allen seinen Wurzeln ruht, ist der Welt erhalten worden durch den Schutz des Rechts- und Militärstaats Rom, der der alten Welt die politischen Daseinsformen gab. Dem deutschen Geistesleben ist der preußische Staat Beschützer geworden dadurch, daß er dem deutschen Volk die staatliche Einigung und die ebenbürtige Stellung unter den großen Reichen der Welt schuf.

Wir haben durch die Reichsgründung ein nationales Staatsleben gewonnen. Unsere politische Entwicklung hat damit einen neuen sicheren Weg betreten. Aber zum Ziele gelangt ist sie noch nicht. Die Aufgabe, deren Erfüllung wohl begonnen, keineswegs aber vollendet ist, muß sein die Einheit unseres geistigen und politischen Lebens, das heißt die gegenseitige Durchdringung preußischen und deutschen Geistes. Das preußische Staatsleben muß sich so mit dem deutschen Geistesleben, dieses sich so mit jenem aussöhnen, daß beide ineinander verwachsen, ohne einander zu schwächen. Eine solche Aussöhnung ist noch nicht erreicht. Noch sieht der Vertreter deutschen Geisteslebens gern im preußischen Staate eine feindliche Macht, noch der Altpreuße bisweilen in der freien, durch keine Regel gehemmten Entfaltung des deutschen Geistes eine destruktive Kraft. Und immer wieder kann man erfahren, daß in Parlament und Presse im Namen der Freiheit wider Preußen und im Namen der Ordnung wider den nie zu bändigenden deutschen Geist geeifert wird. Mein verstorbener Freund Adolph Wilbrandt läßt in einem hübschen Schauspiel einen Beamten aus norddeutscher Adelsfamilie und die Tochter eines bürgerlichen Gelehrten auftreten, die sich erst abstoßen und streiten. „Ich repräsentiere das Deutschland Schillers, Goethes und Lessings“, sagt die Gelehrtentochter, und der Beamte erwidert: „Und ich das Deutschland Bismarcks, Blüchers und Moltkes.“ Ähnliches hören wir oft von klugen und ernsten Männern. Unsere deutsche Zukunft hängt davon ab, ob und wie weit es uns gelingt, den deutschen Geist mit der preußischen Monarchie zu verschmelzen. In dem Wilbrandtschen Stück kommt es schließlich zu Liebe und glücklicher Ehe zwischen dem angehenden Staatsminister und der anmutigen Schwärmerin für Friedlich Schiller.

Es ist richtig, daß im außerpreußischen Deutschland auf Grund anderer politischer Traditionen vielfach Auffassungen von staatlicher Herrschaft und politischer Freiheit herrschen, die grundverschieden sind von denen, die gewachsen sind auf dem Boden preußischer

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/148&oldid=- (Version vom 31.7.2018)