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Kraft der preußischen Monarchie für das neue Reich gewonnen werden, so durfte der König von Preußen als deutscher Kaiser nicht etwa Inhaber schattenhafter Würden sein, er mußte regieren und führen und zu diesem Zweck tatsächliche monarchische Rechte besitzen so, wie sie dann in der Reichsverfassung niedergelegt und umschrieben sind. Auf den Wegen der Demokratie, auf denen andere Völker zum Ziel nationaler Entwicklung gelangt sind, wäre Deutschland gar nicht oder nur sehr langsam und unvollkommen zu staatlicher Einigung gekommen. Als Monarchie, mit der Vertretung der verbündeten Fürsten im Bundesrat und dem König von Preußen an der Spitze sind wir ein einiges deutsches Reich geworden. Unter die alleinige Obhut streitender Parteien im Parlament gegeben, hätte der Reichsgedanke niemals so an Boden, niemals so die deutschen Herzen gewinnen können, wie es geschehen ist, da die Reichseinheit unter den Schutz der Monarchie gestellt ward. Was Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts der spätere Ministerpräsident des Deutschland schicksalsverwandten Italiens Crispi an Mazzini schrieb, er habe sich von der Republik zur Monarchie bekehrt, weil die Monarchie Italien einige, die Republik es spalte: das gilt auch für uns. Und das gilt besonders deshalb, weil das Deutsche Reich, in der Mitte Europas gelegen, an seinen weiten Grenzen von Natur ungenügend beschützt, ein Militärstaat sein und bleiben muß. Starke Militärstaaten haben aber in der Geschichte immer einer monarchischen Führung bedurft.

Eine starke Monarchie an der Spitze schließt eine rege Anteilnahme des Volkes an den Dingen des staatlichen Lebens im Reich und in den Einzelstaaten natürlich nicht aus. Im Gegenteil, je lebhafter und verständnisvoller das Interesse des Volkes in allen seinen Teilen ist an der Entwicklung der politischen Angelegenheiten, desto inniger wird die Nation mit der Monarchie, die führend an der Spitze des nationalen Lebens steht, verwachsen. Das Staatsleben der modernen Monarchie ist eine Arbeitsgemeinschaft von Krone und Volk, wie sie bei uns durch die Verfassungen geschaffen ist. Es ist ein alter Irrtum, den Grad der Anteilnahme des Volkes an den Staatsgeschäften allein messen zu wollen an der Summe der Rechte, die der Volksvertretung gegeben ist. Es kann ein Parlament sehr weitgehende Rechte besitzen, ohne daß das Volk besonders lebhaftes Interesse an der Politik nimmt. So war in Frankreich früher zuweilen das Parlament allmächtig, aber das Volk gleichgültig. Dem relativ großen Maß von verfassungsmäßigen Rechten, das in Deutschland dem Reichstag und den Landtagen gegeben ist, könnte eine weit regere politische Teilnahme, ein viel eindringenderes politisches Verständnis des Volkes zur Seite stehen, als es bisher der Fall ist. Die sogenannte „Politisierung des Volkes“ ist eine Frage politischer Erziehung, nicht eine Frage parlamentarischer Macht. Die hier und da laut gewordene Behauptung, es wäre mein Gedanke gewesen, die Verteilung der Rechte zwischen Krone und Parlament zugunsten des Parlaments zu verschieben, das heißt ein parlamentarisches Regime im westeuropäischen Sinne herbeizuführen, gehört in das dichtbevölkerte Reich politischer Fabeln. Die Rechtsgrenze zwischen Krone und Parlament hat mir unverrückbar festgestanden. In der äußeren wie in der inneren Politik habe ich es als meine vornehmste Aufgabe angesehen, die Krone nach bestem Wissen und Gewissen zu stärken, zu unterstützen und zu schützen, nicht nur aus innerstem Royalismus und persönlicher

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/150&oldid=- (Version vom 31.7.2018)