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Veränderung nur dadurch erfahren, daß durch preußische Staatsweisheit und preußische Waffen das Deutsche Reich geschaffen wurde. Preußen ist der Grund- und Eckstein des Deutschen Reiches; von der Gesundheit und Kraft Preußens hängt allein die Gesundheit und Kraft des Deutschen Reiches ab.

Eine formelle Abänderung hat die preußische Verfassung bei Aufrichtung des deutschen Gesamtstaates nicht gefunden; daß durch die Reichsverfassung eine ganze Anzahl von Artikeln der preußischen Verfassung außer Kraft getreten und durch Vorschriften der Reichsverfassung ersetzt sind, steht staatsrechtlich außer Zweifel.

1. Abänderungen der Verfassungsurkunde.

Anderweitige Abänderungen der Verfassungsurkunde Preußens im letzten Vierteljahrhundert sind nur wenige erfolgt. Die ursprüngliche Zahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses von 350 wurde gemäß wiederholter Änderung des Art. 69 VU., besonders infolge der großen Gebietserweiterung von 1866, 1906 auf 443 festgestellt. Durch dasselbe Gesetz wurde eine Reihe von Wahlbezirken verändert und die Wahlorte mehrfach neu bestimmt. Ferner wurde durch ein zweites Gesetz vom gleichen Datum für Gemeinden, deren Zivilbevölkerung mindestens 50 000 beträgt, die Abstimmung bei der Wahl der Wahlmänner in einer nach Anfangs- und Endtermin festzusetzenden Abstimmungsfrist (Fristwahl im Gegensatz zur Terminwahl in gemeinschaftlicher Versammlung der Urwähler zu bestimmter Stunde) festgesetzt; jedoch kann der Minister des Innern auf Antrag des Gemeindevorstandes auch für solche Gemeinden die Beibehaltung der bisherigen Terminwahl oder auch für Gemeinden mit geringerer Bevölkerungsziffer Fristwahl anordnen. Ferner kann der Minister des Innern bestimmen, daß in Wahlbezirken mit mehr als 500 Wahlmännern die Wahl der Abgeordneten in Gruppen der Wahlmänner oder daß auch diese Wahl in der Form der Fristwahl vorzunehmen ist. Die für das Wahlgeschäft erforderlichen Ehrenämter (Wahlvorsteher, Protokollführer, Beisitzer) müssen von den Urwählern bzw. Wahlmännern übernommen werden bei Strafe bis 300 Mark, es sei denn, daß einer der im Gesetz bezeichneten Ablehnungsgründe vorhanden ist. –

Die – an sich recht geringfügigen – juristischen Streitfragen über die Regelung des Schulwesens durch Gesetz – ob nur ein Gesamtgesetz oder auch Einzelgesetze zulässig seien – haben im Jahre 1906 vor Erlaß des großen Volksschulunterhaltungsgesetzes (s. unten) zur Aufhebung der Artikel 112 und Abänderung des Art. 26 geführt. Dadurch wurde klargestellt, daß auch Spezialgesetze auf dem Gebiete des Unterrichtswesens zulässig seien, und daß es „bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung“ bei dem geltenden Rechte zu verbleiben habe. Selbstverständliche Dinge wurden in eine juristisch zweifelsfreie Form gekleidet.

2. Wahlrecht.

Das Wahlrecht zum preußischen Abgeordnetenhause bildete im Jahre 1910 den Gegenstand erregtester öffentlicher Erörterung und heftigster parlamentarischer Kämpfe. Ein gesetzgeberischer Abschluß wurde nicht erreicht. Die über den Gegenstand in die Verfassung selbst aufgenommenen Vorschriften (Art. 70–72 sind

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/184&oldid=- (Version vom 4.8.2020)