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Blinde und Taubstumme.

Für Beschulung blinder und taubstummer Kinder erging 1911 ein besonderes Gesetz.

Daß das Schulwesen in seinen verschiedenen Graden und Arten einen der glänzendsten Zweige der preußischen Staatsentwickelung in Geschichte und Gegenwart bildet, ist wohl im Auslande noch in viel höherem Maße anerkannt, als in Deutschland selbst; als äußeres Zeichen dieser Wahrheit mag nur erwähnt werden, daß die des Lesens und Schreibens unkundigen Personen aus dem Heere fast ganz verschwunden sind.

2. Staat und Kirche.

Eine quantitativ überaus umfassende Tätigkeit hat die preußische Gesetzgebung der letztvergangenen Jahrzehnte entfaltet für das Gebiet der evangelischen Kirche in den mehrfachen Rechtsgestaltungen, die diese Kirche in den verschiedenen Teilen des heutigen Staates Preußen darstellt. Da auch die evangelische Kirche sich heute seit und kraft der Gesetzgebung der 70er Jahre der verfassungsmäßigen Selbständigkeit gegenüber dem Staate, jedoch unter Festhaltung des aus der Reformation historisch überkommenen landesherrlichen Kirchenregiments, erfreut, kann es sich bei der Staatsgesetzgebung in Dingen der evangelischen Kirche nur um äußere Angelegenheiten handeln. In Dingen der Verfassung und Verwaltung erfolgten grundsätzliche Änderungen nicht. Ein neuer Gedanke fand Aufnahme in das Verfassungsrecht der beiden großen christlichen Kirchen in der Form der Parochialverbände, d. i. der Zusammenfassung mehrerer Gemeinden zu einheitlicher Verwaltungsgemeinschaft für bestimmte Zwecke (Bau von neuen Kirchen, Anlage von Friedhöfen u. a. m.), insbesondre in großen Städten. Für die materiellen Grundlagen der evangelischen Kirche wurden in sehr umfassender Weise staatliche Geldmittel bereitgestellt und ihre Verwendung gesetzlich zuletzt im Jahre 1909 durch Pfarrbesoldungsgesetze, Ruhegehaltsordnungen und Fürsorgegesetze für Witwen und Waisen für die verschiedenen „Landeskirchen“ geregelt. Es bestand hierfür ein um so dringenderes Bedürfnis, als durch die neuere Kirchen- und Staatsgesetzgebung die sog. Stolgebühren für kirchliche Amtshandlungen grundsätzlich aufgehoben wurden. Gemäß dem streng gewahrten Prinzipe der Parität erfolgte eine Neuordnung in analoger Weise auch für die katholische Kirche. Weitere oder anderweitige gesetzliche Maßnahmen für das Verhältnis von Staat und Kirche zu treffen, war im letzten Vierteljahrhundert keine Veranlassung. An innerkirchlichen Schwierigkeiten fehlte es zwar weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche, zu einem Eingreifen des Staates in diese inneren Fragen des kirchlichen Lebens aber bestand keine Notwendigkeit; Staat und Kirche lebten im ganzen in friedlicher, von gegenseitigem Wohlwollen getragener Eintracht. Eine Reihe von rechtlichen Beschränkungen der sog. Altlutheraner wurde durch ein Sondergesetz von 1908 aufgehoben. Das kirchliche Besteuerungsrecht fand durch verschiedene Sondergesetze, so insbesondere auch für die katholischen Diözesen, durch Staatsgesetze von 1903 und 1906 eine weitere Ausgestaltung.

Im übrigen siehe die besonderen Kapitel dieses Werkes über die evangelische und katholische Kirche.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/197&oldid=- (Version vom 4.8.2020)