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Staatsregierungen haben bei mannigfachen öffentlichen Anlässen mit ähnlichen Kundgebungen hoher Anerkennung nicht zurückgehalten. Und die Reichs- wie Staatsgesetzgebung des letzten Vierteljahrhunderts hat für eine große Fülle neuer staatlicher Aufgaben mit Recht die Mitwirkung der Selbstverwaltung in Anspruch genommen. Es sei hier nur an die Arbeiten auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung aller Art, der Kranken-, Unfall-, Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung, aber auch der Mitwirkung in der staatlichen Steuerverwaltung, der gewerblichen Aufsichtstätigkeit, der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte erinnert, deren Bewältigung einen immer größeren Verwaltungsapparat, natürlich auch stetig wachsende finanzielle Lasten erforderte.

Staatsaufsicht.

Neben dem so bekundeten grundsätzlichen Vertrauen in[1] die Kraft der Selbstverwaltung kann aber, zumal mit der oben bereits beklagten Verschärfung der politischen Gegensätze, bei den gesetzgebenden Körperschaften wie bei der Staatsregierung ein fühlbarer Mangel an tatsächlichem Vertrauen in ihre Tätigkeit nicht verkannt werden. Er äußert sich einerseits – und zwar weniger im Süden und Westen, als besonders im Norden und Osten des Vaterlandes – in einem starken Drange vieler Staatsinstanzen nach Betätigung staatlicher Aufsicht. Daß die Selbstverwaltung staatlicher Aufsicht unterliegen, daß solche auch, wenn es das Staatsinteresse erfordert, mit allem Nachdruck gehandhabt werden muß, wird niemand bestreiten wollen. Nimmt die Staatsaufsicht sich aber mit zu großer Liebe der kleinen Alltäglichkeiten des Lebens an, statt nur in großen, wirklich das Ganze berührenden Dingen ihre Aufgabe zu sehen, so schafft sie nur unnütze Arbeit, vermehrte Reibungsflächen, aber keinen wirklichen Nutzen – bei berechtigter Abwehr einer aufsichtlichen Betätigung eher Schaden für die Staatsautorität. Sie übersieht oder verkennt zugleich, daß ein Hauptzweck für die Selbstverwaltung ja gerade der ist, an sich der Staatsverwaltung obliegende Aufgaben innerhalb eines örtlich begrenzten Kreises durch diejenigen wahrnehmen zu lassen, welchen die entsprechende staatliche Fürsorge unmittelbar zugute kommen soll, die also naturgemäß selbst das meiste Interesse an der tunlichst verständigen Erfüllung dieser Staatsaufgaben haben. Freudiges Vorwärtsschaffen in der vom Staate abgeleiteten Selbstverwaltungsarbeit wird sicherlich gefördert, je mehr sie sich von großherzigem Vertrauen geleitet sieht; oder Steins verdienstvoller Mitarbeiter Frey es vor 100 Jahren ausdrückte: „Zutrauen wie veredelt den Menschen!“ – Einen Mangel an solchem hat aber andererseits die Staatsverwaltung wie die Gesetzgebung – und das ist die im Allgemeininteresse noch bedauerlichere Erscheinung – in einer gewissen besorgten Hintenhaltung voller und freier Zuständigkeiten der Selbstverwaltung bekundet. Es sei zum Beweise dessen hier nur an die großen Schwierigkeiten und Bedenken bei der Übertragung einzelner Zweige der Polizei auf sie – namentlich der für sie so wichtigen Bau- und Wegepolizei – an die in zahlreichen neueren Gesetzen immer wiederkehrenden besonderen staatlichen Zustimmungen und Genehmigungen zu ihren Beschlüssen, an das ängstliche Fernhalten ihrer Betätigung im inneren Schulwesen, sowie endlich an den erst jüngst veröffentlichten

  1. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: es muß heißen: „Vertrauen in die Kraft“.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/218&oldid=- (Version vom 4.8.2020)