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zu verzichten und der machtpolitischen Fortführung des Einigungswerts zu entsagen, das es wirtschaftspolitisch zielbewußt begonnen hatte. Wohl waren durch die Überleitung des Staatslebens in konstitutionelle Bahnen neue Kräfte für das nationale Leben frei geworden. Unendliches hätte dieser Staat an innerer Lebendigkeit und nationaler Stoßkraft gewonnen, wenn dieses treue Volk zu rechter Zeit zur politischen Mitarbeit berufen worden wäre, wie es Stein und Hardenberg, Blücher und Gneisenau, Wilhelm von Humboldt und Boyen, auch Yorck und Bülow-Dennewitz gewünscht hatten. Als der große Schritt 33 Jahre zu spät getan wurde, war das Mißtrauen zwischen Volk und Obrigkeit schon zu tief eingefressen, hatte das Ansehen der Regierung im Verlauf der revolutionären Erhebung zu schweren Schaden genommen, als daß die modernen Staatsformen unmittelbar hätten Segen bringen können. Der Gang der preußischen Politik war gehemmt im Innern durch eine mißtrauische und in Doktrinen befangene Volksvertretung, nach außen durch den unbesiegten Widerstand der österreichischen Vormachtsansprüche. Da griff, von König Wilhelm im entscheidenden Augenblick berufen, nahezu in zwölfter Stunde Bismarck in das stockende Räderwert der preußischen Staatsmaschine.

Daß eine normale geschichtliche Entwicklung zur staatlichen Einigung Deutschlands unter preußischer Führung gelangen mußte, daß es das vornehmste Ziel preußischer Staatskunst war, diese Entwicklung zu beschleunigen und zu vollenden, das war den einsichtigen Patrioten jener Jahre wohl bewußt. Aber alle Wege, die man beschritten hatte, um zum Ziele zu gelangen, hatten sich als ungangbar erwiesen. Von der Initiative der preußischen Regierung schien je länger, je weniger zu erwarten. Die gutgemeinten, aber unpraktischen Versuche, das deutsche Volk zu veranlassen, die Bestimmung seiner Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, scheiterten, weil die in Deutschland wie kaum in einem anderen Lande ausschlaggebende treibende Kraft der Regierungen fehlte. Im „Wilhelm Meister“ erwidert der erfahrene Lothario der schwermütigen Aurelie, die an den Deutschen vieles auszusetzen hat, es gäbe in der Welt keine bravere Nation als die deutsche, sofern sie nur recht geführt werde. Der Deutsche, welches Stammes er immer sei, hat stets unter einer starken, stetigen und festen Leitung das Größte vermocht, selten ohne eine solche oder im Gegensatz zu seinen Regierungen und Fürsten. Bismarck hat uns in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ selbst erzählt, daß er sich hierüber von Anfang an nicht im Zweifel war. Mit genialer Intuition fand er den Weg, auf dem sich die Hoffnungen des Volkes mit den Interessen der deutschen Regierungen zusammenfinden mußten. Er war wie kaum je ein Staatsmann eingedrungen in die Geschichte der Nation, deren Leitung in seine Hände gelegt war. Hinter dem äußeren Zusammenhang der Ereignisse suchte und fand er die treibenden Kräfte des nationalen Lebens. Die große Zeit der Befreiung und Erhebung Preußens ist ihm, der im Jahre von Waterloo geboren und von Schleiermacher in der Berliner Dreifaltigkeitskirche eingesegnet worden war, nie aus dem Gedächtnis geschwunden, sie stand im Anfang seines weltgeschichtlichen Wirkens in voller Lebendigkeit vor seinen Augen. Er fühlte, daß sich in Deutschland nationaler Wille und nationale Leidenschaft nicht entzünden in Reibungen zwischen Regierung und Volk, sondern in den Reibungen deutschen Stolzes und Ehrgefühls an den Widerständen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)