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seiner eigenen Tatkraft bleibt also immer ein recht weiter Spielraum. Soweit in sämtlichen Zweigen der Versicherung eine vorbeugende und heilende Tätigkeit in Frage steht, wird man ernstlich nicht von einer Lähmung des selbständigen Willens zum Erwerbe sprechen können, ganz abgesehen davon, daß die Wiederherstellung verloren gegangener Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit und die Vorbeugung der Invalidität Maßnahmen sind, die in der Allgemeinheit dem Arbeitgebertum und der Volkswirtschaft mindestens in eben demselben Maße zugute kommen wie dem einzelnen Arbeiter und seiner Familie selbst. Aber auch ein weiteres Moment läßt jene Befürchtung unbegründet erscheinen. Im weitesten Umfange haben die Versicherungsgesetze die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung gegeben, die meist die Arbeitnehmer allein belasten. Besonders auf dem Gebiete der Krankenversicherung wird aber von der Versicherungsberechtigung ein sehr erheblicher Gebrauch gemacht, woraus sich klar ergibt, daß die Versicherten über ihre Pflicht hinaus Opfer bringen, weil sie das ihnen sonst gesetzlich Gewährte nicht als genügende Fürsorge betrachten. Gerade in der Krankenversicherung, bei deren Verwaltung der überwiegende Einfluß der Arbeitnehmer wirksam zu werden pflegt, haben die Kassen von der fakultativen Erweiterung ihrer Leistungen einen vielfach Bewunderung erregenden Gebrauch gemacht, ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß sie sich selbst zu Leistungen anspornen und das gesetzliche Minimum ihnen nur den Anlaß zu weiterer Anstrengung bietet. Soweit aber schließlich in großen Kreisen der Arbeiterschaft der Irrtum sich festgesetzt hat, es müsse eigentlich von Staats wegen bei Krankheit, Unfall oder Invalidität in einer Weise gesorgt werden, die ihnen den Ertrag einer vollständigen Erwerbsfähigkeit ersetzen würde, muß eine Aufklärungsarbeit einsetzen. Es muß immer deutlicher gemacht werden, daß in der Vorbeugung und Heilung und nicht in der Zuführung von Millionen Menschen an die etwa ihren ganzen Lebensunterhalt auf sich nehmende Staatskrippe das Ziel der Sozialversicherung liegt. Eng zusammen hängt hiermit die viel beklagte Erscheinung der Simulation und die der Rentenhysterie, auf die in diesem Zusammenhang hingewiesen werden mußte.

III.

Zu Einsichten, die einen Zusammenhang mit der sozialen und allgemeinen Politik erkennen lassen, führen die Regelungen über die Träger der Versicherung, über die Versicherungsbehörden und das Organisationsproblem.

Versicherungsträger.

Was zunächst die Träger der Reichsversicherung angeht, so hat die Reichsversicherungsordnung am bisherigen Rechte hieran wenig geändert. An sich bleiben die Krankenkassen für die Kranken-, die Berufsgenossenschaften für die Unfall- und die Versicherungsanstalten für die Invalidenversicherung, diese auch für die neu hinzugekommene Hinterbliebenenversicherung, in Wirksamkeit. Von besonderem Interesse ist aber, in welcher Weise die einzelnen Träger spezialisiert sind, insbesondere, welche Kassenarten vorkommen. Überdies sind das Reich, der Bundesstaat, die Gemeinde, ein Gemeindeverband oder eine andere öffentliche Körperschaft in besonderem Falle Versicherungsträger, ebenso die sogen. Sonderanstalten

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/239&oldid=- (Version vom 31.7.2018)