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und Ansprüchen fremder Nationen. Solange die Frage der deutschen Einigung nur ein innerpolitisches Problem war, ein Problem, um das vorwiegend zwischen den Parteien und zwischen Regierung und Volk gehadert wurde, konnte sie eine Fürsten und Völker mitreißende gewaltige zwingende nationale Bewegung nicht erzeugen. Als Bismarck die deutsche Frage hinstellte als das, was sie im Kern war, als eine Frage der europäischen Politik, und als sich bald die außerdeutschen Gegner der deutschen Einigung regten, da gab er auch den Fürsten die Möglichkeit, sich an die Spitze der nationalen Bewegung zu stellen.

In Frankfurt, in Petersburg, in Paris hatte Bismarck den Mächten Europas in die Karten gesehen. Er hatte erkannt, daß die Einigung Deutschlands eine reine deutsch-nationale Angelegenheit nur so lange bleiben konnte, wie sie frommer Wunsch und unerfüllbare Hoffnung der Deutschen war, daß sie eine internationale Angelegenheit werden mußte mit dem Moment, in dem sie in das Stadium der Verwirklichung eintrat. Der Kampf mit den Widerständen in Europa lag auf dem Wege zur Lösung der großen Aufgabe der deutschen Politik. Anders als in einem solchen Kampfe aber waren die Widerstände in Deutschland selbst kaum aufzulösen. Damit war die nationale Politik der internationalen eingegliedert, die Vollendung des deutschen Einigungswerkes durch eine unvergleichliche staatsmännische Schöpferkraft und Kühnheit den ererbt schwächsten Fähigkeiten der Deutschen, den politischen, genommen und den angeborenen besten, den kriegerischen, zugewiesen. Eine günstige Fügung wollte es, daß Bismarck einen Feldherrn wie Moltke, einen militärischen Organisator wie Roon an seiner Seite fand. Die Waffentaten, die uns unsere europäische Großmachtsstellung zurückgewonnen hatten, sicherten sie zugleich. Sie nahmen den Großmächten die Lust, uns den Platz im europäischen Kollegium wieder zu entreißen, den wir in drei siegreichen Kriegen erobert hatten. Wenn uns dieser Platz auch ungern eingeräumt worden war, so ist er uns doch seitdem nicht ernstlich bestritten worden. Frankreich ausgenommen, hätte sich wohl alle Welt mit der Machtstellung Deutschlands allmählich befreundet, wenn unsere Entwicklung mit der Reichsgründung beendet gewesen wäre. Die staatliche Einigung ist aber nicht der Abschluß unserer Geschichte geworden, sondern der Anfang einer neuen Zukunft. In der vordersten Reihe der europäischen Mächte gewann das Deutsche Reich wieder vollen Anteil am Leben Europas. Das Leben des alten Europa aber war schon lange nur noch ein Teil des gesamten Völkerlebens.

Deutschland als Weltmacht.

Die Politik wurde mehr und mehr Weltpolitik. Die weltpolitischen Wege waren auch für Deutschland geöffnet, als es eine mächtige und gleichberechtigte Stelle neben den alten Großmächten gewann. Die Frage war nur, ob wir die vor uns liegenden neuen Wege beschreiten oder ob wir in Besorgnis um die eben gewonnene Macht vor weiterem Wagen zurückschrecken sollten. In Kaiser Wilhelm II. fand die Nation einen Führer, der ihr mit klarem Blick und festem Willen auf dem neuen Wege voranging. Mit ihm haben wir den weltpolitischen Weg beschritten. Nicht als Konquistadoren, nicht unter Abenteuern und Händeln. Wir sind langsam vorgegangen, haben uns das Tempo nicht vorschreiben

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)