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Von Finanzreformen spricht man eigentlich solange das Reich besteht; größere und kleinere wechseln miteinander ab und folgen sich in immer kürzeren Zwischenpausen. Wie kommt dies? Liegt dies in der Natur der Einnahmen des Reiches oder haben andere Ursachen dieses endlose Drama, wie es G. Cohn einmal nennt, verursacht?

Es war sozusagen natürlich, daß das Reich sein Einnahmewesen zunächst auf Zölle und einige Verbrauchssteuern gründete, die schon im Zollverein und im Norddeutschen Bund die gemeinsamen Einnahmen bildeten. Ihre Verwendung für das Reich störte das Finanzwesen der Einzelstaaten nicht, verhütete Reibungen und Rivalitäten, wie sie leicht entstehen konnten, wenn das Reich Steuern für sich in Anspruch genommen hätte, die den Haushalt der Gliedstaaten alimentierten. Zudem waren Zölle, Verbrauchs- und die bald hinzutretenden Verkehrssteuern in Deutschland noch wenig entwickelt und also ausbaufähig. Sie ergaben im Jahre 1875 in England 27,28, in Frankreich 25,83 M. auf den Kopf der Bevölkerung, im Deutschen Reich einschließlich der Bundesstaaten etwa 7 M. Von den gesamten Einnahmen entfielen im gleichen Jahre in Frankreich 43,4, in England 58,6, in Deutschland kaum 20% auf sie. Man wird also zugeben müssen, daß sie im Vergleich mit diesen beiden anderen Staaten einer Steigerung fähig waren. Aber die Verhältnisse waren ihrem Ausbau nicht günstig. In Frankreich und England stammt ihre ergiebige Ausnützung aus einer Zeit, in der man eine kräftige Besteuerung des Massenkonsums von entbehrlichen Genußmitteln als selbstverständlich ansah und das bestechende Schlagwort vom Pfeifchen des armen Mannes noch nicht geprägt war. Die ersten Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches aber standen unter der Herrschaft des volkswirtschaftlichen Kongresses, dessen Anhänger dem Staat überhaupt nur ein Mindestmaß der Betätigung gestatten wollten, und, wenn Steuern bewilligt werden sollten, nur für die allgemeine Einkommensteuer und vielleicht auch die Vermögenssteuer zu haben waren, also Steuern, die in jener Zeit verfrüht und für das Reich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen unerreichbar waren.

Die tatsächlichen Verhältnisse, die Änderungen in den wirtschaftlichen Anschauungen und in den Parteigruppierungen sind über jene Doktrinen hinweggeschritten. In der Zollpolitik mußte die freihändlerische Richtung der schutzzöllnerischen weichen. Das Wachsen der Reichsausgaben war so wenig aufzuhalten, wie ein weiteres Ausnützen der Verbrauchssteuern und ein Zugriff auf Verkehrssteuern. Aber mit unsäglicher Mühe und der fruchtlosen Arbeit vieler Jahre mußten die Mittel den gesetzgebenden Faktoren abgerungen werden. Immanent schien dem Reichstag das Mißtrauen gegen die Forderungen der Reichsregierung. Nur nicht zu viel bewilligen, war die Losung. Und da dann immer zu wenig bewilligt und das Bewilligte durch die Franckensteinsche Klausel künstlich verringert wurde, so standen stets neue Forderungen vor der Türe und weder Regierung, noch Reichstag, noch Publikum kamen zur Ruhe. Freilich haben Zölle und Verbrauchssteuern auch fatale Eigenschaften: ihr Ergebnis ist in hohem Maße abhängig von den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen; günstige Konjunkturen erhöhen es, ungünstige machen es sinken. Nicht selten versagen sie gerade in Zeiten, in denen der Staat höherer Einnahmen bedarf. Bei einer so stürmischen Entwicklung der Ausgaben, wie wir sie im Reich hatten, reicht ihr natürliches, d. h. das durch Wohlstandsmehrung

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/270&oldid=- (Version vom 4.8.2020)