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bemerkenswerte Höhe erreicht hat, und daß der Druck, den sie auf die unteren Klassen ausübt, nicht ausgeglichen wird durch die Erleichterungen im direkten Steuerwesen der Einzelstaaten. Die gesetzgebenden Faktoren des Reiches haben das auch namentlich seit den letzten 10 Jahren anerkannt und Abhilfe zu schaffen gesucht. Schon die stärkere Ausnutzung der Verkehrssteuern ist hierfür ein Symptom. In derselben Richtung lag auch der Ruf nach der allgemeinen Erbschaftssteuer und nach der „Besitzsteuer“, von der freilich niemand recht sagen konnte, welcher Art sie sein sollte. Gemeint war damit jedenfalls die Forderung, daß es nun genug an den Verbrauchssteuern sei, und daß weitere Lasten den leistungsfähigeren, „besitzenden“ Klassen aufgebürdet werden sollen. Übrigens erschallt dieser Ruf nicht nur in Deutschland; vielmehr macht sich überall, selbst in Frankreich, das Bestreben geltend, die neuen Ausgaben der sog. richesse acquise zuzuschieben und besonders die Wehrforderungen für die Landesverteidigung den angesammelten Sparfonds zu entnehmen. In sozialer Hinsicht erscheint dies als ein Fortschritt. Es wird auch nicht bestritten werden können, daß in Deutschland weitaus der größte Teil des Wehrbeitrags und der Besitzsteuer wird aufgebracht werden können, ohne den Vermögensstamm anzugreifen, indem der Steuerpflichtige sich einige mehr oder weniger überflüssige Ausgaben versagt. Daß aber die Volkswirtschaft den Entzug von 1 Milliarde M. durch Verschiebungen im Erwerbsleben verspüren wird, kann nicht zweifelhaft sein. Die Rüstungsindustrien, das Wort im weitesten Sinne genommen, werden aufblühen; andere Geschäfte, bei denen die Nachfrage nachläßt, werden wenigstens vorübergehend leiden. Rechtzeitige Zurückhaltung im Schuldenwesen hätte die Möglichkeit gewährt, einen großen Teil der einmaligen Ausgaben der neuen Wehrvorlage auf Anleihen zu nehmen. Jetzt büßen die Söhne für die Sünden der Väter.

Für die Zukunft ergibt sich jedenfalls die Mahnung, in der Ordnung des Haushaltes mit möglichster Strenge zu verfahren und die Anlässe zu Schuldaufnahmen wenigstens allmählich zu vermindern. Damit hängt die andere zusammen, keine Ausgabe zu bewilligen, bevor nicht die Deckungsmittel bereitgestellt sind. Es ist mit Sicherheit vorauszusehen, daß Regierung und Reichstag über kurz oder lang sich neuerdings vor dem Problem der Steuermehrung befinden werden. Die Erfahrung von Jahrzehnten zeigt, daß die Sparsamkeit in der Bewilligung von Einnahmen schlimme Folgen zeitigt. Das ratenweise Steuerbewilligen bringt den Haushalt des Reiches in Unordnung und erzeugt beim Steuerzahler und den beteiligten Industrien steigenden Unmut. Es muß dabei als selbstverständlich gelten, daß die künftigen Vorlagen von dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit beherrscht sein müssen. Das soll nicht den Verzicht auf eine Höherbelastung solcher Gegenstände bedeuten, deren Konsum ohne Gefahr für die Volksgesundheit je nach Einkommen vermindert oder aufgegeben werden kann, wohl aber soll jene Forderung auf die Pflicht einer aussöhnenden Belastung der stärkeren Steuerkräfte verweisen, deren Neigung zur Steuerzahlung nicht immer im Verhältnis steht zur Mehrung des Wohlstandes und des Einkommens.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/272&oldid=- (Version vom 4.8.2020)