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England an der Seite Preußens, und zwar gerade in kritischen Zeiten preußischer Geschichte während des Siebenjährigen Krieges und im Zeitalter Napoleons I. Es war aber weniger gemütvolle Sympathie mit dem kühn und mühevoll emporstrebenden blutsverwandten Staat im deutschen Norden, was die englische Haltung bestimmte. England trat für englische Zwecke an die Seite des tüchtigsten Gegners der stärksten europäischen Macht und ließ Friedrich den Großen in schwerer Stunde, ließ Preußen auf dem Wiener Kongreß kaltblütig im Stich, als es seine Zwecke erreicht sah. Während der Fesselung der französischen Kräfte im Siebenjährigen Kriege brachte England seinen nordamerikanischen Besitz in Sicherheit. In den großen Jahren 1813 bis 1815 zertrümmerte die stürmische Tapferkeit Preußens endlich und endgültig die napoleonische Weltherrschaft. Als Preußen in Wien um jeden Quadratkilometer Land bitter hadern mußte, hatte England seine Weltmacht errungen und konnte sie nach der Niederwerfung des französischen Gegners für absehbare Zeit als gesichert ansehen. Als Feind der stärksten Kontinentalmacht waren wir Englands Freund, durch die Ereignisse von 1866 und 1870 wurde Preußen-Deutschland die stärkste Macht des europäischen Festlandes und rückte in der englischen Vorstellung allmählich an den Platz, den früher das Frankreich des Sonnenkönigs und der beiden Bonapartes eingenommen hatte. Die englische Politik folgte ihrer traditionellen Richtung, die Front gegen die jeweilig stärkste Kontinentalmacht zu nehmen. Nach dem Niedergange des habsburgischen Spaniens war das Frankreich der Bourbonen Englands natürlicher Gegner, von der hervorragenden Teilnahme Marlboroughs am spanischen Erbfolgekrieg bis zum Bündnis mit dem Sieger der Schlacht bei Roßbach, die in London wie ein Triumph der britischen Waffen gefeiert wurde. Nach den Jahrzehnten eifersüchtigen Mißtrauens gegen das unter Katharina II. mächtig erstarkende Rußland wandte sich die englische Politik aufs neue und mit voller Energie gegen Frankreich, als Bonaparte die Armeen der Republik zum Siege über alle Staaten des europäischen Festlandes führte. In dem Ringkampf zwischen dem ersten Kaiserreich und England blieb England Sieger, gewiß in erster Linie dank der unerschütterlichen und grandiosen Stetigkeit seiner Politik, dem Heldenmut seiner Blaujacken bei Abukir und Trafalgar und den Erfolgen seines eisernen Herzogs in Spanien, aber auch durch die Zähigkeit der Russen und Österreicher und den Ungestüm unseres alten Blücher und seiner Preußen. Als nach dem Sturz Napoleons das militärische Übergewicht vom Westen Europas auf den Osten überzugehen schien, wandte England seine politische Front. An dem für Rußland unglücklichen Ausgang des Krimkrieges und an dem Scheitern der hochfliegenden Pläne des stolzen Kaisers Nikolaus I. hatte England hervorragenden Anteil, und auch Kaiser Alexander II. fand die englische Politik nicht selten auf seinen politischen Wegen, am fühlbarsten im nahen Orient, dem alten Hoffnungsfelde russischen Ehrgeizes. Das englische Bündnis mit Japan ging aus ähnlichen Erwägungen hervor wie die entente cordiale mit Frankreich, die die internationale Politik der Gegenwart entscheidend beeinflußt.

Das Interesse, das England an der Gestaltung der Machtverhältnisse auf dem europäischen Festlande nimmt, gilt selbstverständlich nicht allein dem Wohlbefinden derjenigen Mächte, die sich durch die überlegene Stärke einer einzigen unterdrückt oder bedroht fühlen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/30&oldid=- (Version vom 31.7.2018)