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und deren Segen, wenn sie Gesetz geworden sein wird, erst in der späteren Praxis recht hervorleuchten werden, liegt gerade die einzig richtige Handhabe zur Lösung des Problems, welches das Gesetz von 1908 auf einem unrichtigen Wege – durch übermäßige Einengung des Tatbestandes – zu lösen bestrebt war.

Strafgesetznovelle von 1912.

In ahnlicher Weise mit grundsätzlicher Billigung im großen und ganzen, jedoch mit Bedenken in Einzelheiten, muß man der neuesten, sehr bedeutsamen Novelle zum Strafgesetzbuch gegenüberstehen, welche das Gesetz vom 19. Juni 1912 (RGBl. S. 395) gebracht hat. Auch diese Novelle ist bekanntlich formell, ebenso wie die „lex Heinze“, aus einem von der Regierung angenommenen Initiativantrag (Wellstein und Genossen) hervorgegangen, beruht aber materiell auf einer bis dahin nicht verabschiedeten Regierungsvorlage, aus welcher der Initiativantrag die streitig gebliebenen Punkte (Beleidigung und Erpressung) weggelassen hatte. Sie betrifft die verschiedensten Gegenstände im Strafgesetzbuch, nämlich die §§ 114 (Beamtennötigung), 123 (Hausfriedensbruch), 136 (Siegelbruch), 137 (Arrestbruch), 223a (sog. qualifizierte Körperverletzung), 235 (sog. Kinderraub), 239 Abs. 1 (Freiheitsberaubung), 248a (Diebstahl und Unterschlagung), 264a (Betrug), 288 Abs. 1 (Vollstreckungsvereitelung), 327 Abs. 1, 328 Abs. 1 (Verletzung von Absperrungsmaßregeln usw.), 355 (Verletzung des Telegraphengeheimnisses), 369 Abs. 1 (eine polizeiliche Bestimmung gegen Schlosser), und 370 Ziffer 5 (sog. Mundraub). Man hat das Strafgesetzbuch daraufhin durchgesehen, welche seiner Paragraphen einer Änderung noch vor der allgemeinen Revision bedürfen. Der leitende Gesichtspunkt ist dabei offenbar vorwiegend der gewesen, welche Bestrebungen aus sozialen Rücksichten zu mildern sind.[1] Soweit diese Milderungen die Strafen betreffen, insbesondere die häufige Einsetzung von wahlweise zugelassener Geldstrafe, sind sie durchaus zu billigen, ebenso die Umgestaltung des § 123 StGB., und der neue Abs. 2 des § 223a, der die Strafe der qualifizierten Körperverletzung androht, wenn gegen eine noch nicht 18 Jahre alte oder wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Person, die der Fürsorge oder Obhut des Täters untersteht oder seinem Hausstande angehört oder die der Fürsorgepflichtige der Gewalt des Täters überlassen hat, eine Körperverletzung mittels grausamer oder boshafter Behandlung begangen wird. Diese Neuerungen werden sich ohne Zweifel als sehr nützlich erweisen. Gegenstand der oben erwähnten Bedenken ist jedoch die Ausgestaltung, welche die §§ 248a und 264a und namentlich der erstgenannte erhalten haben. – Dieser bestimmt bekanntlich in den hier erheblichen ersten beiden Absätzen:

„Wer aus Not geringwertige Gegenstände entwendet oder unterschlägt, wird mit Geldstrafe bis zu 300 M. oder mit Gefängnis bis zu 2 Monaten bestraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. Die Zurücknahme des Antrags ist zulässig.“

Der hierin liegende schöne soziale Gedanke: Der Arme, der aus Not sich geringfügiger Eigentumsvergehen schuldig macht, soll mild bestraft werden, ist berechtigt und


  1. Wobei nebenher freilich auch aus gleichen Rücksichten einige wenige Schärfungen stattgefunden haben.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/304&oldid=- (Version vom 4.8.2020)