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solchen Gedanken, deren Verwirklichung beinahe einhellig von der „öffentlichen Meinung“ verlangt wird, kann der Gesetzgeber unmöglich vorübergehen, selbst wenn er sich die Bedenken nicht verhehlt, die gegen einzelne von ihnen erhoben werden können. Denn das Recht soll der Ausdruck der überwiegenden Volksüberzeugung sein, und diese steht jetzt unzweifelhaft auf Seiten jener Neuerungen. Schließlich ist diesen zum Teil durch den bisherigen Rechtszustand auch schon vorgearbeitet, so der bedingten Verurteilung durch die „bedingte Begnadigung“, die sich bewährt hat. Soweit Erfahrungen aber noch nicht in gleichem Maße vorliegen, wird der Versuch mit dem allgemein Verlangten gemacht werden müssen. Die Zukunft wird dann lehren, ob das Richtige getroffen ist.

Im übrigen enthält der Vorentwurf eigentlich nur eine Revision des geltenden Rechtes auf dessen Grundlage. Aber sowohl die Tatbestände, wie die Strafdrohungen bemüht er sich, freier und elastischer zu gestalten und die bisherige weitgehende Kasuistik tunlichst zu beseitigen, ohne andererseits in den gegenteiligen Fehler zu großer Unbestimmtheit zu verfallen. Eine überaus wichtige und wenn sie Gesetz wird, sicherlich segensreiche Neuerung von allgemeiner Bedeutung bringt er in dem Abschnitt „Strafbemessung“ durch die Einführung von Sondervorschriften für „besonders leichte“ und „besonders schwere“ Fälle. Niemals, auch bei sorgfältigster Formulierung der einzelnen Tatbestände läßt es sich ausschließen, daß Fälle zur Aburteilung kommen, die nur äußerlich, nicht aber dem Geiste nach, unter das Gesetz fallen, Fälle, an die der Gesetzgeber bei Bemessung seiner Strafandrohung nicht gedacht hat oder die er wegen ihrer eigenartigen, besonderen Lage nicht hat berücksichtigen können. Für diese Fälle kann auch die leichteste gesetzlich für das in Betracht kommende Delikt angedrohte Strafe zu hart sein, beispielsweise, wenn dies nur Gefängnisstrafe mit Ausschluß milderer Strafarten ist. Derartige Bestrafungen, deren Herbeiführung nach dem Legalitätsprinzip nicht immer vermieden werden kann, haben schon öfters in der Öffentlichkeit Anstoß erregt, weil sie als unbillig empfunden wurden. Für solche Fälle trifft nun der Vorentwurf Vorsorge, indem er in § 83 bestimmt:

„In besonders leichten Fällen darf das Gericht die Strafe nach freiem Ermessen mildern und, wo das ausdrücklich zugelassen ist, von einer Strafe überhaupt absehen.
Ein besonders leichter Fall liegt vor, wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend sind, und der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde.“

Als Gegenstück kennt der Entwurf in § 84 natürlich auch „besonders schwere“ Fälle. Ein solcher liegt vor, „wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat ungewöhnlich bedeutend sind, und der verbrecherische Wille des Täters ungewöhnlich stark und verwerflich erscheint“. Aber während bei den besonders leichten Fällen die Milderung bei allen Arten von strafbaren Handlungen einzutreten hat, sobald die Voraussetzungen des § 83 Abs. 2 gegeben sind[1], und während Art und Grad der Milderung ganz dem Ermessen des Richters überlassen sind, darf ein „besonders schwerer“ Fall einen härteren Strafrahmen


  1. Auch Verbrechen sind nicht grundsätzlich ausgeschlossen, und es muß zugegeben werden, daß auch bei ihnen besonders leichte Fälle denkbar sind, wenn sie auch nur selten vorkommen werden.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/313&oldid=- (Version vom 4.8.2020)