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auf eine Reihe von Vergehen ausgedehnt hat, bei denen es sich meist um einfachere Tatbestände handelt.

Bestrebungen auf grundsätzliche Reformen der StrPrO.

Die auf grundsätzliche Reformen der StrPO. gerichteten Bestrebungen betrafen vor allem das Rechtsmittel der Berufung, das schon in den Vorarbeiten einen Gegenstand lebhaften Streites gebildet hatte. Die in der StrPO. getroffene Lösung, wonach nur gegen die Urteile der untersten Strafgerichte – der Schöffengerichte – Berufung zulässig ist, fand vielfachen Widerspruch. Von der öffentlichen Meinung wurde fast allgemein Zulassung der Berufung auch gegen die Urteile der mittleren Gerichte – der Strafkammern – gefordert. Schon im Jahre 1883 wurden im Reichstag von freisinniger Seite, wie vom Zentrum, Anträge dieser Richtung eingebracht. Die Kommission, der die Anträge nach der 1. Lesung überwiesen wurden, erachtete indes ein abschließendes Urteil über das Bedürfnis einer solchen Abänderung der StrPO. wegen der kurzen Zeit ihrer Geltung für nicht möglich, und es wurde dann von einer Beratung der Anträge im Plenum abgesehen. Ein bald darauf dem Bundesrat vorgelegter Gesetzentwurf, der die Berufung gegen Strafkammerurteile bewilligen wollte, fand in diesem keine Mehrheit. Ebenso lehnte der Bundesrat im März 1887 einen vom Reichstag angenommenen Entwurf gleicher Richtung ab. Weitere Entwürfe dieses Inhalts, die von Mitgliedern des Reichstags eingebracht wurden, fanden im Reichstag keine Erledigung. Inzwischen war die Berufungsfrage von neuem unter den Regierungen Gegenstand von Erwägungen geworden. Auf Grund dieser wurde 1894 dem Reichstag ein Entwurf des Bundesrats vorgelegt, der die Berufung gegen die Urteile der Strafkammern gewährte, aber dagegen die Beseitigung mehrerer sogenannter Garantien des Verfahrens verlangte, die seinerzeit in die StrPO. als Ersatz für die versagte Berufung eingeführt waren. Darunter vor allem statt der Besetzung der Strafkammern mit 5 Richtern, die eine Verurteilung nur mit zwei Drittel Majorität, also mit 4 Stimmen, aussprechen können, die Besetzung mit 3 Richtern, bei der 2 Stimmen zur Verurteilung genügen. Der 1894 im Reichstag nicht erledigte, im Dezember 1895 mit einigen Änderungen wieder vorgelegte Entwurf scheiterte an dieser Frage der zahlenmäßigen Besetzung der Strafkammern. Die dann immer wieder von Mitgliedern des Reichstags eingebrachten Entwürfe, die außer in der Berufungsfrage auch noch sonst in einzelnen Punkten Änderungen der StrPO. enthielten, gelangten im Reichstag nicht zur Erledigung. Über Anträge, die Ende 1900 einliefen, ging der Reichstag, nachdem sie einer Kommission überwiesen und von dieser beraten worden waren, schließlich im April 1902 einstimmig zur Tagesordnung über, stellte aber gleichfalls einstimmig an die Regierungen unter Geltendmachung, daß inzwischen in der Militär-Strafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 die Berufung gegen alle Urteile der Militär-Strafgerichte gegeben war, das Ersuchen, ihrerseits baldmöglichst dem Reichstag einen Entwurf betreffend Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der StrPO. im Sinne der Einführung der Berufung gegen Strafkammerurteile vorzulegen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/320&oldid=- (Version vom 4.8.2020)