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Die Berufungsfrage großzügig gelöst.

Nach allgemeinem Urteil ist die Frage, die den Ausgangs- und Höhepunkt der Reformbewegung bildete – die Berufungsfrage – von dem Reformentwurf großzügig gelöst. Der Entwurf gewährt nicht bloß das Rechtsmittel der Berufung, das in der geltenden StrPO. nur gegen die Urteile der untersten Strafgerichte – der amtsgerichtlichen Schöffengerichte – gegeben ist, auch gegen die Urteile der landgerichtlichen Strafkammern als der mittleren Strafgerichte, sondern schreibt auch dabei, wie gegenwärtig bei der Berufung gegen die Schöffengerichte, in der Berufungsinstanz, abgesehen von den Grenzen, die der Verhandlung und Entscheidung im einzelnen Falle durch die Berufungsanträge gezogen werden, eine völlig neue Verhandlung unter nochmaliger mündlicher Vernehmung der bereits in 1. Instanz vernommenen Zeugen und Sachverständigen vor und sichert dadurch der Berufung ihre volle Bedeutung. Eine bloße Nachprüfung des Urteils, das in 1. Instanz auf Grund der lebendigen mündlichen Verhandlung und der von dem Gerichte aus dieser gewonnenen Überzeugung ergangen ist, auf Grund des schriftlichen Aktenmaterials hätte geringen Wert, brächte vielmehr die Gefahr eines der wirklichen Sachlage weniger gerecht werdenden Urteils 2. Instanz mit sich. Als eine Inkonsequenz erscheint es nur, daß der Gesetzgeber, wenn er die Ermöglichung einer zweiten mündlichen Verhandlung im Wege der Berufung für die Urteile der untersten und mittleren Strafgerichte als nötig erachtet, solche nicht auch oder vielmehr erst recht für die höchsten über die schwersten Fälle erkennenden Strafgerichte – die Schwurgerichte – gibt. Allerdings ist das nicht möglich, solange bei den Schwurgerichten die jetzige Trennung der Geschworenen von den Richtern bestehen bleibt. Auch wenn in der 2. Instanz völlig von neuem verhandelt wird, müssen doch dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft für ihre Entschließung über die Einlegung der Berufung, wie dem Berufungsgericht für seine Entscheidung die Entscheidungsgründe der 1. Instanz vorliegen und zu deren schriftlichen Feststellung sind die Geschworenen ohne Mitwirkung von Richtern nicht imstande.

Die Laienfrage.

Bei der zweiten Hauptfrage der Reform – der Laienfrage – beweist der Vorschlag des Entwurfs, die bisher nur bei dem Amtsgericht mitwirkenden Schöffen auch zu den Strafkammern zuzuziehen, daß die Bundesregierungen die Vorzüge, welche der Mitwirkung von Laien für die Rechtsprechung in Strafsachen zugeschrieben werden, in der bisherigen Tätigkeit der Schöffen an den Amtsgerichten bestätigt gefunden haben und voll anerkennen. Diese Vorzüge der Zuziehung von Laien bestehen darin, daß sie den Strafgerichten volleres Verständnis für die Vorgänge des praktischen Lebens und engeren Zusammenhang mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes zuführt, die durch ihre alltägliche Aburteilung gleichartiger Fälle leicht in Routine verfallenden Richter zu einer erschöpfenden in die Besonderheiten des einzelnen Falles eindringenden Verhandlung nötigt, der Strafabmessung ein größeres Eingehen auf die menschlichen Seiten der Tat, wie auf die Individualität des Täters sichert, und, was vor allem von höchstem Wert ist, das Vertrauen des Volkes zur Rechtsprechung stärkt. Sind aber diese Vorzüge anerkanntermaßen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/328&oldid=- (Version vom 4.8.2020)