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Kein Staat, der die bestehenden internationalen Verhältnisse nüchtern beurteilt und Wert auf seine Souveränität legt, wird daher Bestrebungen Vorschub leisten, die auf eine Weltföderation hinzielen[1].

Ebenso ist aber auch der Widerstand durchaus berechtigt, den verschiedene Staaten, darunter namentlich Deutschland, der Einführung der obligatorischen Schiedssprechung und dem Abschlusse eines auf diesem Grundsatze beruhenden Weltschiedsvertrags entgegengesetzt haben, da ein solcher Weltschiedsvertrag nur die Vorbereitung für die Weltföderation sein soll. Haben sich einmal die Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft in bezug auf alle Streitigkeiten einem ein für alle Male bestellten Weltschiedsgericht unterworfen, so sind in der Tat die weiteren Konsequenzen nicht abzusehen.

Herrschaft der Phrasen und der Schlagworte.

In der Gegenwart herrschen sowohl in bezug auf die innerpolitischen Verhältnisse wie hinsichtlich der internationalen Beziehungen in hohem Grade Phrasen und Schlagworte. Wenn in der Presse, in öffentlichen Versammlungen oder in Parlamenten von Fortschritt, Freiheit und Gleichheit, allgemeinem Wahlrecht, sozialpolitischen Aufgaben des Staates oder von Solidarität aller Völker, „Flutwelle des Internationalismus“ usw. die Rede ist, werden oft auch sonst nüchtern denkende Menschen so beeinflußt, daß sie entweder die gegebenen Verhältnisse nicht mehr ganz klar sehen oder sich zu schwach fühlen, der herrschenden Strömung erfolgreichen Widerstand entgegenzusetzen.

Infolgedessen macht sich in unserm öffentlichen Leben, namentlich auch soweit es internationale Verhältnisse zum Gegenstand eine gewisse Unwahrheit und Heuchelei geltend[2], die auch bei den Verhandlungen der beiden Friedenskonferenzen sich recht deutlich gezeigt hat. Gewiß ist diese Unwahrheit in der Regel unbewußt, trotzdem ist sie schädlich, weil selbst maßgebende Persönlichkeiten durch dieselbe veranlaßt werden, die bestehenden Verhältnisse in falschem Lichte zu sehen und daher nicht zutreffende Entschließungen zu fassen.

Es ist hohe Zeit, daß diese Herrschaft der Phrase und der Schlagworte ihr Ende erreicht, denn es ist klar, daß Fortschritte im Völkerrechte nicht durch utopistische, mit den Grundlagen der geltenden Völkerrechtsordnung im Widerspruch stehende Bestrebungen erzielt werden können, sondern nur dadurch, daß auf den bestehenden Grundlagen vorsichtig und ruhig weitergebaut wird. Die Mittel und Wege dazu sind in der bereits


  1. Es ist eine psychologisch merkwürdige Erscheinung, daß in einer Zeit, die, wie man sagt, auf dem Individualismus beruht und in der so viel davon gesprochen wird, daß die Einzelindividuen sich entwickeln und ausleben sollen, eine Bewegung Einfluß gewinnen konnte, die schließlich auf Vernichtung der Selbständigkeit und Eigenartigkeit der einzelnen Staaten und Nationen abzielt und alles in ein Völkergemisch verwandeln möchte, wie es schließlich im römischen Weltreich herrschte und sehr viel zu dessen Untergang beitrug, wie dies Chamberlain, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, nachgewiesen hat.
  2. In der bemerkenswerten Abhandlung: „Friedensbestrebungen und Rüstungsbeschränkung“ in der vom Deutschen Flottenverein herausgegebenen Schrift: „Deutschland sei wach!“ (1912) heißt es mit Recht S. 118: „Noch traut kein Staat dem andern und die internationale Lüge ist ein Charakteristikum der Gegenwart. Während überall hochtönende Friedensversicherungen erklingen, ist die Unsicherheit des Friedens größer denn je, wie die jüngste Vergangenheit zur Genüge bewiesen hat.“
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/360&oldid=- (Version vom 4.8.2020)