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der Vertretung unserer deutschen Interessen in der Welt machtpolitischen Nachdruck zu leihen. Ihr ist in erster Linie die Aufgabe zugedacht, unseren Welthandel, Leben und Ehre unserer deutschen Mitbürger im Auslande zu schützen. Diese Aufgabe haben deutsche Kriegsschiffe in Westindien und Ostasien erfüllt. Gewiß ist es eine vorwiegend defensive Rolle, die wir unserer Flotte zuweisen. Daß diese defensive Rolle sich in ernsten internationalen Konflikten erweitern könnte, ist selbstverständlich. Wenn das Reich mutwillig angegriffen werden sollte, gleichviel von welcher Seite, wird in unseren Zeiten die See als Kriegsschauplatz eine ganz andere und vermehrte Bedeutung gewinnen als 1870. Daß in einem solchen Fall die Flotte wie die Armee getreu der preußisch-deutschen Tradition im Hieb die beste Parade sehen würde, darüber braucht kein Wort gesagt zu werden. Völlig gegenstandslos aber ist die Sorge, die den Bau unserer Flotte begleitet hat, es möchte mit dem Erstarken Deutschlands zur See die deutsche Angriffslust erwachen.

Von allen Völkern der Erde ist das deutsche dasjenige, das am seltensten angreifend und erobernd vorgegangen ist. Wenn wir von den Römerfahrten der deutschen Kaiser des Mittelalters absehen, deren treibende Kraft mehr ein großartiger traumhafter politischer Irrtum gewesen ist als ungebändigte Eroberungs- und Kriegslust, so werden wir vergeblich in unserer Vergangenheit nach Eroberungskriegen suchen, die denen Frankreichs im 17., 18. und 19. Jahrhundert, denen des Habsburgischen Spaniens, Schwedens in seiner Glanzzeit, denen des russischen und englischen Reichs im Zuge ihrer grundsätzlich expansiven nationalen Politik an die Seite zu setzen sind. Mehr als die Verteidigung und Sicherung unseres Vaterlandes haben wir Deutschen in Jahrhunderten nie erstrebt. So wenig wie der große König seine unbesiegten Bataillone nach der Eroberung Schlesiens und der Sicherung der Selbständigkeit der preußischen Monarchie zu Abenteuern führte, so wenig dachten Kaiser Wilhelm I. und Bismarck daran, nach den beispiellosen Erfolgen zweier großer Kriege zu neuen Taten auszuholen. Wenn ein Volk sich der politischen Selbstbeschränkung rühmen darf, so ist es das deutsche. Wir haben uns unsere Erfolge immer selbst begrenzt und nicht abgewartet, daß uns durch die Erschöpfung unserer nationalen Mittel eine Grenze gesetzt wurde. Unsere Entwicklung entbehrt deshalb der Epochen blendenden plötzlichen Aufstiegs und ist mehr ein langsames unverdrossenes Vorwärtsarbeiten und Fortschreiten gewesen. Die rastlose Art anderer Völker, aus den erreichten Erfolgen den Ansporn zu neuen größeren Wagnissen zu schöpfen, fehlt dem Deutschen fast gänzlich. Unsere politische Art ist nicht die des wagehalsig spekulierenden Kaufmannes, sondern mehr die des bedächtigen Bauern, der nach sorgsamer Aussaat geduldig die Ernte erwartet.

Nach dem deutsch-französischen Kriege war die Welt voll Furcht vor neuen kriegerischen Unternehmungen Deutschlands. Kein irgendmöglicher Eroberungsplan, der uns damals nicht angedichtet wurde. Seitdem sind mehr als vier Jahrzehnte vergangen. Wir sind an Volkskraft und materiellen Gütern reicher, unsere Armee ist stärker und stärker geworden. Die deutsche Flotte entstand und entwickelte sich. Die Zahl der großen Kriege, die seit 1870 ausgefochten wurden, war eher größer denn geringer als früher in dem gleichen Zeitraum. Deutschland hat die Teilnahme an keinem gesucht und allen Versuchen, in kriegerische Verwicklungen hineingezogen zu werden, kühl widerstanden.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/37&oldid=- (Version vom 31.7.2018)