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Bürgerliches Gesetzbuch.

VIII. Das für die Gesamtheit der Rechtsentwickelung in Deutschland wichtigste Ereignis unserer Epoche, die Schaffung des einheitlichen deutschen bürgerlichen Rechtes, ist auch für das internationale Privatrecht von größter Bedeutung gewesen. Freilich ist diese Seite des Gesetzbuches nicht durchweg erfreulich. Es wird fast allgemein als ein bedauerlicher Mangel angesehen, daß das Deutsche Reich diese Gelegenheit hat vorübergehen lassen, ohne eine allseitige Kodifikation der Materie des internationalen Privatrechts (im alten Sinn) vorzunehmen, d. h. in eine erschöpfende Regelung der Frage einzutreten, inwieweit bei international gelagerten Tatbeständen deutsches, inwieweit ausländisches, und welches ausländische Recht anzuwenden sei. Anstatt dessen hat man in den Artikeln 7–31 des Einführungsgesetzes nur eine Reihe fragmentarischer Vorschriften mit höchst bestrittenem Inhalte gegeben.

Die beiden Gesetzgebungskommissionen (die erste 1887, die zweite 1891) hatten eine kodifikatorische Regelung des internationalen Privatrechts im Rahmen des BGB. für geboten erklärt, und beide Kommissionen hatten dem Reichskanzler Entwürfe für eine solche Regelung vorgelegt. Fürst Bismarck hat aber 1887 den ihm vorgelegten Entwurf gar nicht an den Bundesrat gelangen lassen, weil er der Ansicht war, daß durch eine derartige Kodifikation dem anzustrebenden Abschluß von Staatsverträgen vorgegriffen würde. Im Jahre 1896 wurde der Entwurf der zweiten Kommission (dieser war als sechstes Buch des BGB. vorgelegt) zwar dem Bundesrat unterbreitet. Aber zufolge des Einspruches des der Bismarckischen Auffassung folgenden Auswärtigen Amtes wurde innerhalb des Bundesrates (mit Überweisung an das preußische Staatsministerium) eine Revision vorgenommen, welche zu der bruchstückartigen Gestaltung der Materie (ein nahe beteiligter hoher Staatsbeamter sagte: Verunstaltung) führte, die dann vom Reichstag ohne weiteres gutgeheißen wurde.

Die Mängel, welche der auf diese Weise Gesetz gewordenen Regelung vorgeworfen werden, liegen vor allem darin, daß große Materien des Privatrechts gar nicht geregelt sind. Am fühlbarsten ist dies auf dem großen und wichtigen Gebiet der Vertragsverpflichtungen, das heißt also der unendlich zahlreichen Handelsbeziehungen Deutschlands zum Ausland, besonders auch nach Übersee. Es konnte daher jüngst gesagt werden: „Deutschland steht im Weltverkehr mit einem auswärtigen Handel im Werte von jährlich rund 15 000 Millionen M., nur von Großbritannien übertroffen, an zweiter Stelle. Welches Recht aber auf Kauf und Verkauf im Auslande anzuwenden ist, das steht auch nach Einführung des BGB. noch nicht fest.“ Die dadurch bedingte „Elastizität“ der Rechtsprechung bietet, wie nunmehr auf Grund der inzwischen gemachten Erfahrung gesagt werden darf, weit mehr Nachteile als Vorteile; denn sie bedeutet Rechtsunsicherheit – den dem Handel unerwünschtesten Zustand. Dabei darf nicht verschwiegen werden, daß speziell auf dem Gebiete des Obligationenrechtes die Bismarckische Ablehnung der Regelung durch die Vertretung der Hansastädte unterstützt worden sein soll, weil man dort eben jene Elastizität wünschte.

Eine andere Art von Lücken ist in unserem Gesetzeswerk in der Weise entstanden, daß seine Vorschriften zum großen Teil zu bestimmen unterlassen, welches Auslandsrecht

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/370&oldid=- (Version vom 4.8.2020)