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Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/371

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auf einen gegebenen Tatbestand in jenen Fällen Anwendung zu finden habe, in denen die Anwendung des deutschen Rechtes nicht vorgeschrieben ist. Dieser Art der Regelung hat s. Z. in einer höchst merkwürdigen Wendung der bayrische Ministerialrat Schnell und später H. Neumann das Wort geredet, mit der Begründung, das Deutsche Reich habe nicht die sachliche Zuständigkeit, den Anwendungsbereich der verschiedenen Auslandsrechte gegenseitig abzugrenzen. Diese sog. Theorie der Zuständigkeitserwägung ist von der deutschen Wissenschaft und Praxis überwiegend abgelehnt worden. Die Praxis hat jene Art der Regelung nicht als besonders weisheitsvoll, sondern als schlechterdings mangelhaft behandelt. Sie hat dementsprechend die Lücken so ausgefüllt, wie es auch in anderen Fällen der Lückenhaftigkeit unserer Gesetze zu geschehen pflegt, nämlich durch Analogie, d. h. durch Anwendung des der Regelung zugrunde liegenden Grundgedankens auf die nicht geregelten Tatbestände. Damit ist denn im Ergebnis der Fehler des Gesetzgebers unschädlich gemacht. Die vom Gesetzgeber nicht gegebene Rechtssicherheit ist durch Gerichtsgebrauch hergestellt. Es handelt sich im einzelnen um folgendes.

Rechtsunterstellung nach Staatsangehörigkeit.

Unser Gesetzgeber hat die Staatsangehörigen des Deutschen Reiches in weitestem Maß dem deutschen Recht unterstellt, und zwar gleichgültig, wo sie sich aufhalten, wo sie wohnen, wo sie sterben. Das ist eine nationale Verbesserung des vor 1900 in Deutschland (mit Ausnahme des außerpreußischen französischrechtlichen Gebietes) in Geltung gewesenen Rechtszustandes, nach welchem das Recht des Wohnsitzes entscheidend war und nach welchem – ganz widersinnig – häufig deutsche Gerichte ausländisches Recht anzuwenden hatten in Fällen, in denen ausländische Gerichte deutsches Recht anwendeten. Unser Gesetzgeber hat nun aber nicht die Konsequenz gezogen, auch für Ausländer in den gleichen Beziehungen die Maßgeblichkeit ihres Heimatrechtes vorzuschreiben. Er hat sich, wie man sich fachlich ausdrückt, mit „einseitigen Kollisionsnormen“ begnügt, d. h. er hat sich auf eine Regelung bezüglich der Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit beschränkt, die Ausländer aber überhaupt von der Regelung ausgeschlossen. Dafür ist, wie schon angedeutet, der politische Gedanke maßgebend gewesen, daß man Ausländern Rechtssicherheit nur in der Form von Staatsverträgen geben solle. Es scheint dabei aber in der Tat übersehen zu sein, daß nicht nur Ausländer an der Rechtssicherheit bezüglich der sich an sie anknüpfenden Rechtsverhältnisse interessiert sind, sondern sehr oft auch Deutsche. Auch Deutsche können z. B. daran interessiert sein, daß Rechtssicherheit hinsichtlich der Gültigkeit von Ausländerehen besteht. Die theoretische Begründung der „Zuständigkeitserwägung“ paßt übrigens zu jenem politischen Gedanken keineswegs, denn sie beruht auf doktrinärem Zartgefühl gegenüber anderen Staaten, während der Bismarckische Gedanke auf die Forderung eisernen und rücksichtslosen Druckes gegen solche Staaten hinausläuft, welche sich der staatsvertraglichen Festlegung der Gegenseitigkeit entziehen.

Die deutsche Rechtsprechung hat, wie gesagt, die Lücke durch Anwendung des Staatsangehörigkeitsprinzipes auch auf Ausländer ausgefüllt. Es haben sich auch keine nachteiligen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/371&oldid=- (Version vom 4.8.2020)