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freiere taktische Formen überzuführen, was die mehr systematischen Übungen an Ergebnissen geliefert hatten.

Je mehr die Ansichten sich klärten, je mehr das gegenseitige Sichverstehen Hindernisse beseitigte und Schwierigkeiten überwinden ließ, desto näher konnten die Übungen sich heranschieben an die Wirklichkeit des Krieges und an die Gefahrgrenze. Auch hierin folgten wir der in früheren Jahren bei der Ausbildung der Torpedobootsdivisionen gewonnenen Erfahrung. Zwar hat sich, als an die Stelle der kleinen Boote Schiffe traten, die Millionen an Kapital repräsentieren und Hunderte von Menschen tragen, der Einsatz vergrößert, aber die Methode blieb. Von leichteren zu schwereren, kriegsmäßigeren Übungen fortschreitend, wuchs das Gefühl der Sicherheit in Führern wie Geführten, das nicht auf laienhafter, leichtsinniger Verachtung der Gefahr sich aufbaut, sondern auf dem freudigen Gefühl, ihr gewachsen zu sein. Und hieraus allein kann schließlich auch im Kriege die Freiheit des Entschlusses entstehen, die alles einsetzt, um alles zu gewinnen. Wo aber die harte Notwendigkeit des navigare necesse est Menschenleben schon im Frieden fordert, da sind es die Sieger, die für die Zukunft in den Tod gehen. Denn eine Flotte, die im Frieden den Einsatz scheut, der notwendig ist, um den Krieg vorzubereiten, kann nicht Menschen erziehen, die dereinst den Sieg an ihre Flagge fesseln sollen.

Ich bin, um ein abgeschlossenes Bild zu geben, den Dingen vorausgeeilt. Die Organisationen und die Menschen, die sie trugen, haben gewechselt, der Geist, der das Ganze erfüllte, ist geblieben. Was das Oberkommando der Marine 1892 begann, haben das Flottenkommando – ich nenne als langjährigen, verdienstvollen Flottenchef den Großadmiral v. Köster – und der Admiralstab der Marine unter Leitung des Kaisers fortgesetzt, der nach Abschaffung ersterer Behörde im Jahre 1899 beschlossen hatte, den Oberbefehl selbst zu übernehmen.

Das Hauptergebnis der 1889 begonnenen taktischen Erprobungen aber habe ich schon dadurch vorweg genommen, daß ich von artilleristischer Linientaktik sprach. Unsere Übungen ließen nämlich immer klarer erkennen, daß eine Flotte, die, wie man es 1888 plante, darauf ausging, im direkten Vorschreiten möglichst schnell zum Durchbruchsgefecht oder gar zur Lösung der Ordnung im Nahkampf zu kommen, doch großer Gefahr entgegenging. Dies setzte allerdings voraus, daß ihr Gegner sich dessen bewußt war, welche wichtige Waffe er in der ferntragenden Artillerie besaß. Je mehr aber beide Flotten dies erkannten, je mehr sie darauf ausgingen, die Artillerie, die durch Verkennung ihrer eigentlichen Bestimmung zur Nahwaffe herabgesunken war, wieder zur Fernwaffe zu entwickeln, desto mehr löste sich ihr Gefechtsfeld von dem des Torpedos und der ausgesprochensten Nahwaffe, des Sporns. Nun mußte, wer den Feind am wirksamsten bekämpfen wollte, ihm nicht mehr mit nebeneinander gestellten Schiffen und Schiffsabteilungen den Bug zudrehen, sondern die die Artilleriekraft erst zu voller Geltung bringende Breitseite. Die fechtenden Flotten fuhren in Kiellinie (d. h. mit hintereinander gestellten Schiffen) im „laufenden Gefecht“ nebeneinander her. Nicht mehr Lösung der Ordnung, sondern Innehaltung der Linienformation wurde wieder wie in der alten Zeit zum Kampfprinzip, und sein Träger ist das moderne Linienschiff geworden.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/409&oldid=- (Version vom 12.12.2020)