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Unternehmungen außerhalb des europäischen Festlandes frei geworden ist. Der Übergang zur Weltpolitik bedeutet uns die Eröffnung neuer politischer Wege, die Erschließung neuer nationaler Aufgaben, aber kein Verlassen aller alten Wege, keinen grundstürzenden Wechsel unserer Aufgaben. Die neue Weltpolitik ist eine Erweiterung, nicht eine Verlegung unseres politischen Betätigungsfeldes.

Wir dürfen nie vergessen, daß die Konsolidierung unserer europäischen Großmachtstellung es uns ermöglicht hat, die nationale Wirtschaft zur Weltwirtschaft, die kontinentale Politik zur Weltpolitik zu weiten. Die deutsche Weltpolitik ist auf die Erfolge unserer europäischen Politik gegründet. In dem Augenblick, in dem das feste Fundament der europäischen Machtstellung Deutschlands ins Wanken geriete, wäre auch der weltpolitische Aufbau nicht mehr haltbar. Es ist der Fall denkbar, daß ein weltpolitischer Mißerfolg unsere Stellung in Europa unberührt ließe, es ist aber der Fall undenkbar, daß eine empfindliche Einbuße an Macht und Geltung in Europa nicht eine entsprechende Erschütterung unserer weltpolitischen Stellung zur Folge hätte. Nur auf der Basis europäischer Politik können wir Weltpolitik treiben. Die Erhaltung unserer starken Position auf dem Festlande ist heute noch wie in der bismarckischen Zeit Anfang und Ende unserer nationalen Politik. Sind wir auch weltpolitisch unseren nationalen Bedürfnissen folgend über Bismarck hinausgegangen, so werden wir doch stets die Grundsätze seiner europäischen Politik als den festen Boden unter unseren Füßen behaupten müssen. Die neue Zeit muß mit ihren Wurzeln in den Überlieferungen der alten ruhen. Die Garantie für eine gesunde Entwicklung liegt auch hier in einem verständigen Ausgleich zwischen Altem und Neuem, zwischen Erhaltung und Fortschritt. Der Verzicht auf Weltpolitik wäre gleichbedeutend gewesen mit einem langsamen sicheren Verkümmern unserer nationalen Lebenskräfte. Eine Politik weltpolitischer Abenteuer ohne Rücksicht auf unsere alten europäischen Interessen würde vielleicht zunächst reizvoll und imponierend wirken, bald aber zu einer Krisis, wenn nicht zur Katastrophe in unserer Entwicklung führen. Die gesunden politischen Erfolge werden nicht viel anders wie die kaufmännischen gewonnen: in ruhiger Fahrt zwischen der Skylla ängstlicher Vorsicht und der Charybdis wagehalsigen Spekulierens. Ich bin seit dem Tage, wo ich die Geschäfte des Auswärtigen Amts übernahm, fest davon überzeugt gewesen, daß es zu einem Zusammenstoß zwischen Deutschland und England, der für beide Länder, für Europa und für die Menschheit ein großes Unglück wäre, nicht kommen werde, wenn wir 1. uns eine Flotte bauten, die anzugreifen für jeden Gegner mit einem übermäßigen Risiko verbunden wäre, 2. darüber hinaus uns auf kein ziel- und maßloses Bauen und Rüsten einließen, auf kein Überheizen unseres Marinekessels, 3. keiner Macht erlaubten, unserem Ansehen und unserer Würde zu nahe zu treten, 4. aber auch nichts zwischen uns und England setzten, was nicht wieder gutzumachen gewesen wäre. Darum habe ich ungehörige und unser nationales Empfinden verletzende Angriffe immer zurückgewiesen, von welcher Seite sie auch kommen mochten, aber jeder Versuchung zu einer Einmischung in den Burenkrieg widerstanden, denn eine solche würde dem englischen Selbstgefühl eine Wunde geschlagen haben, die sich nicht wieder geschlossen hätte. 5. Wenn wir ruhige Nerven und kaltes Blut behielten, England weder brüskierten noch ihm nachliefen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/41&oldid=- (Version vom 31.7.2018)