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ganze Land. Seine Schiffe müssen haltmachen, wo die See endet, aber über die Küste hinweg greift die gepanzerte Hand der Seeherrschaft, sie pocht an das Kontor des Kaufmanns drinnen im Lande, an die Tore der Fabriken in den großen binnenländischen Zentren der Industrie, wie an die Türe des Arbeiters.

Solcher Verletzlichkeit für den Seekrieg, die für England schon lange vorhanden war, hatten sich die Festlandsstaaten immer mehr genähert, und dadurch ist das Verhältnis, das am Ende der Napoleonischen Kriege bestand, verschoben worden: die wirtschaftliche Abhängigkeit des Kontinents von England, die der Beginn des vergangenen Jahrhunderts gebracht hatte, besteht im damaligen Sinne nicht mehr. Sie hat sich aber dadurch in eine militärische verwandelt, daß die Festlandsstaaten verwundbarer geworden sind für Englands Hauptwaffe, den Seekrieg. So ist ihnen, den Konkurrenten Englands, die Flottenrüstung aufgezwungen worden, die ihrem Anteil am Seeverkehr entspricht. Sonst leben sie von Englands Gnade.

Dieser Staat ist es denn auch gewesen, der als erster seine Folgerungen aus der neuen Lage gezogen und das „Wettrüsten“ begonnen hat. In der richtigen Überlegung, daß das Hinausgehen seiner wirtschaftlichen Mitbewerber auf die Verkehrswege der See nur einen Sinn habe, wenn sie durch den Ausbau ihrer Flotten für den nötigen Schutz sorgten, beschloß er, ihnen zuvorzukommen. Ehe die Flotte Frankreichs, die bisherige einzige Rivalin, sich von den sie schwächenden Einflüssen der nouvelle école erholt hatte, in demselben Jahre, da Deutschland durch die Inbaugabe der vier „Brandenburg“-Schiffe den Bau von großen Schlachtschiffen endlich wieder aufnahm und die Vereinigten Staaten das erste seegehende Panzerschiff in Auftrag gaben, im Jahre 1889 hat England in der naval defence act 430 Millionen Mark zu einer sprungweisen Verstärkung seiner damals schon alle anderen weit überragenden Flotte auf den Etat gebracht, für die 10 Schlachtschiffe, 42 Kreuzer und 18 Torpedokanonenboote gebaut werden sollten.

In die erste Reihe dieser wirtschaftlichen Konkurrenten Englands begann nun Deutschland zu treten. Die Bismarcksche Schutzzollpolitik von 1879 hatte viele Zweige der Großindustrie so erstarken lassen, daß der innere Markt ihnen nicht mehr genügte. Sie waren, als die Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. politische Beruhigung und damit weiteren Aufschwung von Handel und Wandel zu bringen begann, wohlgerüstet, um hinauszutreten auf den Weltmarkt, wie es die steigende Volkszahl in Deutschland ja auch gebieterisch forderte. Die vielumstrittenen und viel verurteilten Caprivischen Handelsverträge von 1891 gaben dann die Möglichkeit zu langfristigen gewinnbringenden Geschäftsabschlüssen, und schnelles Wachstum der überseeischen deutschen Beziehungen war die Folge. Mit immer scheleren Blicken sah man in England auf diesen Umschwung, immer dringender trat für uns die Notwendigkeit hervor, für einen wirksamen Schutz zu sorgen, wenn nicht Gefahren entstehen sollten.

Auf kolonialem Gebiet war nach innen hin Ruhe eingetreten, nach außen hin Stillstand. Nachdem zuerst in Kamerun, dann auf den Samoa-Inseln und in Ostafrika das Personal der Flotte in mehrfach verlustreichen Gefechten am Lande hatte eingreifen müssen, um Aufstände niederzuwerfen, setzte allmählig der friedliche Ausbau ein; im

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/413&oldid=- (Version vom 12.12.2020)