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d) Eine Auslandsflotte von 8 großen und 10 kleinen Kreuzern.[1] Von allen diesen Verbänden ist die Auslandsflotte noch am weitesten zurück. Aber wie England doch jetzt nicht nur allein auf die Nordsee schaut, sondern sich wieder der ferner liegenden und außereuropäischen Seegebiete zu erinnern beginnt, so werden auch wir trotz der Wichtigkeit, die der heimischen Schlachtflotte zukommt, doch unserer Friedensaufgabe im überseeischen Auslande mehr Kräfte zuwenden müssen, wenn unsere Seeinteressen und unser Ansehen dort nicht Schaden leiden sollen. Was die Flottennovelle von 1906 dafür auf den Etat gebracht hat, ist immer noch nicht verfügbar, und schließlich leidet die Heimatflotte selbst, wenn in dringenden Fällen immer wieder auf sie zurückgegriffen werden muß.

Die deutsche Seemachtsstellung unter dem Schutz der Flotte.

Erweitern wir aber den Rahmen unserer Betrachtung wieder zu dem Begriff der Seemacht, von dem wir ausgegangen sind, so kann mit Befriedigung festgestellt werden, daß Deutschlands Handel, seine Industrie und seine Schiffahrt in dieser Zeit zwar Schwankungen der wechselnden Konjunktur ausgesetzt gewesen sind, daß sie sich aber innerhalb des stets wachsenden Welthandels und Weltverkehrs stärker vermehrt haben, als bei Bemessung der Stärke unserer Flotte im Jahre 1900 angenommen werden konnte. Wir haben in einzelnen Ausfuhrartikeln, z. B. Roheisen, England überflügelt, unser Außenhandel, von dem ein immer größerer Teil auf den Seehandel kommt, zeigt eine stärkere prozentuale Zunahme als der englische, und diese friedlichen Elemente der Seemacht sind des Schutzes wohl wert, den unsere Flotte innerhalb des Gesamtorganismus der Flottenrüstungen der Welt zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes auf der See darstellt.

Ein Wandel hat sich in gewissem Sinne vollzogen in der Frage der Kolonien. Seit Deutschland innerhalb der ihm gezogenen Grenzen ein große Werte ausführender Industriestaat geworden ist, haben sich die Erwerbsmöglichkeiten in der Heimat derart vermehrt, daß eine nennenswerte Auswanderung nicht mehr stattfindet. Die Notwendigkeit für den Besitz von Siedelungskolonien, die den Überschuß unserer Bevölkerung aufnehmen können, statt ihn fremden Ländern zugute kommen zu lassen, ist daher nicht mehr in dem Maße vorhanden, wie früher: der deutsche Kolonialhunger, insoweit er früher auf diesem Grunde beruhte, hat abgenommen. Da auch der Geburtenüberschuß abnimmt, wäre es zudem wohl besser, überschießende Menschenkraft zunächst zur inneren Kolonisation im Lande zu behalten. Denn Deutschland bedarf, um als Kontinentalstaat sich des wirtschaftlichen und militärischen Drucks auf seine Grenzen zu erwehren, einer zahlreichen arbeitsamen und wehrhaften Bevölkerung. Was wir aber an Kolonien besitzen und was uns darüber hinaus zur Schaffung eigener überseeischer Absatz- und Einkaufsgebiete


  1. Der heutige Stand des Ausbaus der Flotte sei kurz dadurch charakterisiert, daß die letzten der auf die Zahl der Linienschiffe im Jahre 1900 angerechneten Küstenpanzerschiffe von 4150 Tons Deplacement jetzt in Schiffen der neuen „Kaiser“-Klasse von 24 700 Tons Ersatz gefunden haben. Die Ersatzschiffe für die vier beim Regierungsantritt des Kaisers geforderten Schiffe der „Brandenburg“-Klasse sind im Bau.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/426&oldid=- (Version vom 12.12.2020)