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Die Kolonien
Von Dr. v. Lindequist, Staatssekretär des Reichs-Kolonialamtes a. D.,
Wirklicher Geheimer Rat


Einleitung.

Die ersten Kolonialerwerbungen. Bismarcks Schutz.

Man pflegt unsere Flotte gern und mit Stolz ein Kind des wiedererstandenen Deutschen Reiches zu nennen. Mit dem gleichen, ja mit noch größerem Rechte verdienen unsere Kolonien diese Bezeichnung. Aber während die Flotte sich rühmen konnte, von jeher des Deutschen Volkes Liebling zu sein, war unser Kolonialbesitz viele Jahre ein rechtes Schmerzens- und Stiefkind. Kein Wunder! Denn ebensowenig wie beim Reichstage (und leider auch zeitweise bei der Reichsregierung) war in den breiteren Schichten unseres Volkes bis in dieses Jahrhundert hinein wirkliches allgemeineres Interesse und tieferes Verständnis für koloniale Fragen vorhanden. Dies war um so überraschender, als bei den ersten Erwerbungen in Afrika und in der Südsee in den Jahren 1884/85 die Initiative nicht etwa von der Regierung, sondern von Männern des praktischen Erwerbslebens ausgegangen war.

Männer, wie der Bremer Lüderitz, der Hamburger Wörmann, der Berliner Hansemann, Hernsheim, und der Mann, dem wir den Erwerb Ostafrikas in erster Linie verdanken, Dr. Peters, wußten die Wünsche einer langsam, aber stetig wachsenden Schar ernster, von Patriotismus durchglühter und von der Notwendigkeit überseeischen Besitzes überzeugter Volksgenossen in die Tat umzusetzen, indem sie nahezu gleichzeitig im Westen und Osten Afrikas und in der Südsee festen Fuß faßten und größere Landerwerbungen machten. Sie taten es im festen Glauben, daß ihrem kühnen Vorgehen in der entscheidenden Stunde die tatkräftige Unterstützung der Reichsregierung nicht fehlen würde; und sie sahen sich darin nicht getäuscht. Denn der eiserne Kanzler, der sich nach Verwerfung der Samoavorlage durch den Reichstag mehrere Jahre hindurch gegenüber allen Anregungen zu einer aktiven Kolonialpolitik ablehnend verhalten hatte, glaubte nun die Stunde gekommen, erwirkte die Erlaubnis seines Kaiserlichen Herrn, seine starke Hand schützend über den Besitzergreifungen zu halten, und wies die angeblich besseren Ansprüche anderer Nationen, die uns diesen Land- und Machtzuwachs neideten, namentlich Englands, ebenso energisch und kühl, wie erfolgreich zurück.

Diese welthistorischen Vorgänge hatten zur Folge, daß sich wenigstens in einzelnen Schichten unseres Volkes die Überzeugung Bahn brach, daß neue, von der Willkür Dritter

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/431&oldid=- (Version vom 9.3.2019)