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und nicht unfreundlich für Deutschland, und Kaiser Nikolaus gab der Welt einen neuen Beweis seiner Weisheit und Friedensliebe, indem er sich für einen gütlichen Ausgleich der bestehenden Schwierigkeiten entschied. Die kunstvolle Einkreisung und Isolierung Deutschlands, während einiger Zeit das Schreckbild ängstlicher Gemüter, entpuppte sich als ein diplomatisches Blendwerk, dem die realpolitischen Voraussetzungen fehlten. Der ihr zugrunde liegende Rechenfehler war der gewesen, daß sie die europäische Großmachtstellung des Deutschen Reichs nicht mit ihrem vollen Wert als Faktor in die politische Rechnung eingestellt hatte. Gewiß, wenn es gelänge, unserer Stellung in Europa einen empfindlichen Stoß zu versetzen, so würde auch unsere Weltpolitik tödlich getroffen werden. Soweit war die Rechnung der Einkreisungspolitik richtig. Aber wir sind so leicht auf dem Festlande nicht zu treffen. Der Dreibund ist eine Macht, gegen die sich um ferner liegender Interessen willen selbst von einer geschickten Diplomatie keine Macht vorschieben läßt, gegen die jede Macht den Kampf nur um letzte Lebensfragen wagen kann. Last not least sind die Festlandmächte vielfach durch Interessen verbunden, die sich der deutsch-englischen Rivalität auf der See und im Welthandel nicht unterordnen lassen. Nur mit England steht Deutschland in weltpolitischer Verrechnung. Bei allen anderen europäischen Mächten kommt die kontinentalpolitische Gegenrechnung für die Gestaltung ihrer Beziehungen zum Deutschen Reich entscheidend in Betracht.

Das war die große Lehre der bosnischen Krise, daß unsere Weltpolitik im letzten Ende auf unserer Kontinentalpolitik ruht. Unsere Weltpolitik hatte uns in Gegensatz zu England gebracht. Gegen die deutsche Welthandels- und Seemacht war die Einkreisungspolitik gerichtet, die eine ernste Gefährdung unserer Sicherheit zu werden schien. Durch unsere Stärke als Kontinentalmacht haben wir das Einkreisungsnetz zerrissen, sodaß jenseits des Kanals jene Ernüchterung eintreten konnte, die einer Epoche ruhigen Gedankenaustauschs und verständigen Interessenausgleichs zwischen den beiden Nationen vorangehen mußte. Der Besuch, den König Eduard dem deutschen Kaiserpaar im Winter 1909, unmittelbar nachdem in der bosnischen Krisis die entscheidende Wendung eingetreten war, in der Reichshauptstadt abstattete, nahm einen befriedigenden Verlauf. Der König fand eine herzliche Aufnahme. Er wußte seinerseits durch die aufrichtige Friedensliebe und warme Freundschaft, die er wiederholt zum Ausdruck brachte und die bald nachher in der englischen Thronrede wie in der Adreßdebatte des englischen Parlaments noch bekräftigt wurde, den günstigen Eindruck seines Besuches zu unterstreichen und zu vertiefen. Mit diesem letzten Besuch des Königs Eduard in Berlin fiel ein freundliches und für die Zukunft gute Hoffnungen erweckendes Licht nicht nur auf das Verhältnis des Königs zu Deutschland, sondern auch auf die Beziehungen zwischen zwei großen Völkern, die allen Grund haben, sich gegenseitig zu achten und friedlich in Friedensarbeiten miteinander zu wetteifern. Rückschläge konnten natürlich eintreten. Sie sind tatsächlich nicht ausgeblieben. Der Rückschlag im Sommer 1911 war sogar ziemlich heftig. Aber der Versuch, den deutsch-englischen Gegensatz zu einem System der gesamten internationalen Politik zu erweitern, wird kaum wiederholt werden und würde, wenn er unternommen werden sollte, wiederum seine Grenze finden an den harten Tatsachen der Kontinentalpolitik, deren härteste der Dreibund ist.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/44&oldid=- (Version vom 31.7.2018)